Verschollen
Stirn.
»Nur vage«, sagte er. »Die beeinträchtigt die Lungenfunktion. Ist es nicht so?«
Sie nickte.
»Das und noch eine ganze Reihe anderer Dinge. Es ist eine erbliche Krankheit, ein genetischer Defekt, der die Körpersekrete verschleimt und unnatürlich zähflüssig macht. Der Schleim sammelt sich in den Lungen, lässt sich nicht absondern und verursacht Infektionen. Im Magen-Darm-Trakt, in der Bauchspeicheldrüse, und die Leber wird auch in Mitleidenschaft gezogen. Es endet damit, dass die Organe versagen.«
»Und das ist unheilbar?«
Marianne Linde nickte.
»Heutzutage macht man, soweit ich weiß, Experimente mit Gentherapie. Und die Medizin hat sich natürlich weiterentwickelt. Die meisten Kranken, die daran leiden, führen ein völlig normales Leben. Die Lebenserwartung liegt bei fünfzig Jahren und steigt ständig, habe ich gelesen. Damals waren die Prognosen viel schlechter. Und auch die Behandlung: Schleimlöser, Antibiotika, Atemgymnastik und Bewegung. Ich glaube, die damalige Lebenserwartung lag nur bei knapp dreißig Jahren.«
»Und Desirée Härlin konnte trotzdem zur Schule gehen, trotz der Beeinträchtigungen durch die Krankheit?«
»Sie war etwas Besonderes. Sie besaß eine ungeheuerliche Kraft. Ich hatte die Vermutung, dass es mit der Krankheit zusammenhing. Auch ihre Ausstrahlung. Dass sie gewissermaßen immer auf des Messers Schneide lebte. Ständig. Es gab keinen Platz für etwas Gewöhnliches in ihrem Leben. Alles um sie herum wurde geradezu schmerzhaft intensiv, gleichsam lebensentscheidend.«
Sie holte tief Luft, als würde sie noch immer dieses Gefühl spüren können. »Obwohl, natürlich ist es auch zu einem großen Teil Inga Härlin zu verdanken, dass ihr Leben so normal wie möglich verlief. Die Mutter. Sie war früher auch Krankenschwester gewesen, blieb dann aber zu Hause. Man kann durchaus sagen, dass sie ihr Leben der Tochter geweiht hatte. Sie kümmerte sich um die Medikation, war unerbittlich, wenn es um die Atemübungen und Gymnastik ging, und massierte sie, um den Schleim zu lösen. Zusammen mit Kaj. Er wurde zu Desirées Beschützer. Hier in der Schule waren die beiden so gut wie unzertrennlich. Darum hat man wohl begonnen, sie ›die Zwillinge‹ zu nennen. Außerdem waren sie gleichaltrig. Zumindest auf dem Papier.«
Sie hielt kurz inne und sah Nielsen an.
»Sie wissen doch, dass sie beide adoptiert sind, oder? Die Härlins konnten keine eigenen Kinder bekommen. Desirée war ein spezieller Fall. Sie kam mit einer kleinen Gruppe von Flüchtlingen aus dem Osten - Tschechen, glaube ich -, die nach Malmö geflohen waren. Ihre leibliche Mutter ist kurz nach ihrer Ankunft dort gestorben, und keiner in der Gruppe wollte sich des Kindes annehmen. Vielleicht wussten sie, dass irgendetwas nicht stimmte, oder haben es vermutet. Das Alter des Kindes war unklar, es gab keinerlei Papiere, also hat man es einfach geschätzt.«
»Und die Härlins ahnten nichts von der Krankheit, als sie das Kind adoptierten?«
»Laut Inga Härlin nicht. Erst ein paar Jahre später. Ungefähr zu dem Zeitpunkt, als sie Kaj aufnehmen. Eigentlich hätte sie es wissen müssen. Mukoviszidose ist eine Krankheit, die sich früh bemerkbar macht, oft schon im frühesten Kindesalter. Wahrscheinlich hat sie es doch gewusst oder immerhin geahnt, schließlich hatte sie medizinische Kenntnisse. Aber ich glaube nicht, dass es eine Rolle spielte, sie wollte dieses Mädchen, das hat man gemerkt. Wenn sie das Kind ansah oder von ihr sprach... Und Kaj, ja, ich kann mir nicht helfen, aber ich habe den Eindruck, dass er wegen Desirée in die Familie kam. Dass es schon von Anfang so vorgesehen war, dass er ihr Helfer werden sollte, ein Retter in der Not.«
John Nielsen nickte nachdenklich.
»Es sieht so aus, als wären sie da ziemlich involviert gewesen? In ihre Krankheit und die Familienverhältnisse...«
Marianne Linde musste lachen.
»Ja, aber das ist nicht so verwunderlich. Man kann ruhig sagen, dass ich zur Helferin Nummer 2 auserkoren wurde. Von Inga Härlin. Und wenn sie sich etwas vorgenommen hatte, hatte man meist keine andere Wahl.«
Sie legte den Kopf auf die Seite.
»Es ist komisch, wenn man jetzt darüber nachdenkt. Im Alltag war sie wie eine kleine, graue Maus. Sagte nicht viel. Ein bisschen beschränkt, konnte man denken. Auf jeden Fall habe ich diesen Irrtum begangen. Und habe mich gründlich getäuscht! Unter ihrer Schale war sie messerscharf. Und bekam immer ihren Willen, auf die eine oder
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