Verschwoerung der Frauen
sich seiner Heimat näherte, woraufhin sein Vater, der glaubte, sein Sohn sei tot, sich umbrachte. Meiner Meinung nach«, schloß Dorinda und nahm einen Schluck Sherry, »hatte Theseus den unbewußten Wunsch, seinen Vater zu töten: In allen unbewußten Männerwünschen geht es ums Töten und Triumphieren. Ariadne dagegen entdeckte ihren unbewußten Wunsch, in Sichtweite der Heimat zu bleiben und sie selbst zu sein. Das Problem für uns alle ist bloß, daß wir keine Heimat mehr haben, in deren Sichtweite wir bleiben könnten – Heimat natürlich im übertragenen Sinne gemeint.«
»Eine kluge Analyse«, sagte Kate. »Glauben Sie, daß das auch Gabrielles Auffassung war?«
»Das können wir nicht wissen, solange wir ihre Schriften nicht gelesen haben – solange Sie sie nicht gelesen haben, was wir uns alle fieberhaft wünschen.« Dorinda trank ihren Sherry aus und hielt Kate ihr Glas hin wie ein Kind, das noch einen Nachschlag möchte. Kate holte den Sherry, froh, etwas Zeit gewonnen zu haben, das alles zu verdauen. Dorinda schien ganz in ihrem Element: schnelle Gedan-136
kensprünge, amüsante Anekdoten. Aber, so hatte Kate den Verdacht, man machte einen Fehler, wenn man Dorinda unterschätzte – einen Fehler, den sie, Kate, vermeiden wollte.
»Glauben Sie, Gabrielle ist aus dem gleichen Grund nach England zurückgegangen, wie Ariadne in Sichtweite von Knossos blieb?«
»Das habe ich mich auch schon oft gefragt. Wir drei haben da ei-ne Theorie.« Kates gespannter Gesichtsausdruck signalisierte, daß sie es kaum erwarten könne, diese Theorie zu hören.
»Mark Hansford hat mir erzählt, daß Gabrielles Bruder, der damals schon stark aufs Greisenalter zutatterte, sie in London und dann später noch einmal im Pflegeheim besucht hat. Mark ging zu ihm, aber offensichtlich war er alles andere als mitteilsam. Natürlich waren damals weder Anne noch Nellie noch sonst jemand bereit, Hansford viel zu sagen, aber das Schweigen, in das sich der Bruder hüllte, war undurchdringlich. Natürlich ist er inzwischen gestorben, wir haben also nur unsere Theorie. Vielleicht geben Gabrielles Papiere uns recht, oder auch nicht. Aber wenn unsere Theorie stimmt, enthalten ihre Papiere nichts Persönliches über sie oder ihre Familie, weder die eigene noch die angeheiratete. Unsere Theorie ist, daß Gabrielle
– ob nun in Nachahmung Ariadnes oder nicht – an den Ort zurückkehrte, wo sie geboren wurde. Sie schrieb ihrem Bruder – wohlge-merkt, das alles ist reine Spekulation –, und er, die Menschen werden ja im Alter angeblich, vielleicht sogar wirklich, versöhnlich, ließ sein Männerherz erweichen und besuchte sie.«
»In ihrer Wohnung in Kensington?«
»Davon gehe ich aus. Vielleicht haben sie sich auch im Regents Park oder in den Kensington Gardens getroffen – oder sich den Wachwechsel vor dem Buckingham Palast angeguckt.
Jedenfalls müssen sie so lange miteinander gesprochen haben, daß Gabrielle klar wurde: Egal, wo ihre Heimat sein mochte, bei diesem verstaubten Bruder jedenfalls nicht. Wahrscheinlich wollte er sie bewegen, auf den Familiensitz zurückzukehren und die brave Schwester, Tante oder eine andere gesittete weibliche Rolle zu spielen. Eines war ihr also klar: Wo immer ihr Zuhause war, auf dem alten Herrensitz bestimmt nicht. Ich stelle mir gern vor, und Nellie ergeht es ebenso, daß sie beschloß, ihre Heimat sei in dem, was sie geschrieben hatte. Daß sie deshalb so sehr fürchtete, ihre Schriften könnten verlorengehen. Nach den Akten des Pflegeheims, die Mark einsah, besuchte der Bruder sie dort noch einmal – wie ich stark 137
hoffe, um sein entsetzlich schlechtes Gewissen zu beruhigen –, aber da war Gabrielle schon nicht mehr erreichbar. Ende meiner Geschichte. Die beiden anderen halten sie für gar nicht so unwahrscheinlich.«
»Aber Beweise haben Sie keine?«
»Keinen einzigen. Meine Theorie erfindet nur die fehlenden Teile zum Puzzle, aber das Gesamtbild, das sich ergibt, wirkt doch recht stimmig, finden Sie nicht?«
»Ich habe keine Ahnung«, sagte Kate. »Nicht den kleinsten Faden, dem ich folgen könnte. Aber Ihre Geschichte gefällt mir. Sie paßt mit den Fakten zusammen und ist außerdem phantasievoll. Und das macht eigentlich eine gute Biographie aus.«
»Sie werden also über Gabrielle schreiben? Keine übliche Biographie, sondern in einer neuen Form, die auf Gabrielles Schriften basiert.«
»Alles noch ein reines Traumgebilde – wie das, was wir uns von Gabrielles Schriften
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