Vertraute Schatten
Lucan vor seiner Abreise einen Besuch abzustatten. Jetzt verstand er, was Jaden gemeint hatte. Die Flügel waren riesig, beeindruckend, bedeckt mit Federn, die so dunkelblau waren wie der Himmel, kurz bevor die Nacht hereinbricht.
Arianes Flügel waren schön, aber durchscheinend, märchenhaft und doch kräftig. Dies hier waren die Flügel eines Racheengels. Damien brauchte einen Moment, bis er weitersprechen konnte, zumal er den Blick kaum von den Flügeln losreißen konnte.
»Bist du also endlich wach. Was willst du, Lucan?«
Die Art, wie Lucan ihn aus seinen violetten Augen ansah, machte ihn allmählich nervös. Diese Augen schienen eine Menge zu sehen. Sehr viel mehr, als sie hätten sehen sollen. Es fiel Damien nicht leicht, Lucans Blick standzuhalten. Schließlich sprach Lucan, mit einer Stimme, die gleichermaßen volltönend wie kalt war.
»Irgendetwas stimmt nicht. Sammael ist gefangen genommen worden, und Ariane ist in Gefahr.«
Bei Lucans Worten stockte Damien der Atem.
Ich hätte bei ihr bleiben sollen. Sie hat mich gebeten mitzukommen. Ich hätte es tun sollen, verdammt noch mal. Ich bin so ein Idiot!
»Was ist los? Was ist passiert?« Er trat näher auf den Grigori zu. Seine Angst vor Lucan war vergessen – es musste etwas Schreckliches passiert sein, wenn der Grigori sich auf die Suche nach ihm gemacht hatte.
Grigori neigten nicht zum Überreagieren.
»Kurz nachdem ich wach geworden bin, spürte ich meinen Bruder nach mir rufen.« Zum ersten Mal zeigte Lucans Gesicht eine Regung. Für Damien war es ein Schock zu sehen, dass der Mann wahrhaftig Angst hatte.
»Er ist nach unten gebracht worden. Ich kann ihn nicht mehr hören. Ob er noch lebt …« Er schüttelte den Kopf. »Der Dämon hat sich tatsächlich in Sariels Kopf eingeschlichen. Ich fürchte, man hat Chaos erlaubt aufzuwachen. Er kann Dinge aus weiter Ferne erkennen. Er wird gesehen haben, was die Ratsmitglieder mit Sariel vorhaben, und hat ihn daraufhin vermutlich gewarnt.« Er starrte Damien durchdringend an. »Ariane wird keine Chance haben. Keiner von ihnen wird eine Chance haben. Sie verstehen nicht, wer Chaos ist.«
Damien hatte das Gefühl, sein Herz würde sich in einen Eisblock verwandeln. »Du heiliger Strohsack! Er ist also frei? Sariel hat ihn bereits freigelassen?«
Lucan schüttelte den Kopf. »Nein. Aber das ist nur eine Frage der Zeit. Wir haben Chaos’ Kräfte unterschätzt. Selbst im Halbschlaf hat er den zerstört, der ihm am nächsten war. Vielleicht hätte er das mit jedem von uns geschafft, auch wenn wir einen anderen Anführer gewählt hätten.« Er seufzte leise. »Das werden wir jetzt nicht mehr in Erfahrung bringen.«
Damien versuchte zu erfassen, welche Auswirkungen das alles haben würde. Solange er sich zurückerinnern konnte, war dies das erste Mal, dass es ihm nicht vorrangig darum ging, seine eigene Haut zu retten. Er dachte nur noch an Ariane, die Gefahr lief, einem albtraumhaften Wesen mit Rabenschwingen in die Fänge zu geraten. Die Mischung aus Wut und Entsetzen, die das bei ihm auslöste, drohte ihn schier zu zerreißen.
»Ihr Idioten! Ihr blöden, hirnlosen Idioten! Dieses
Ding
ist einer von euch, nicht wahr? Euer Bruder! Statt zu tun, was nötig gewesen wäre, habt ihr ihn lieber angekettet und mit Seelen gefüttert! Verdammt, das ist alles eure Schuld, und wir anderen können das jetzt ausbaden!« Inzwischen war Damien ganz nah an den Riesen herangetreten und schrie direkt in sein unbewegtes Gesicht hinauf.
»Wenn ihr irgendwas passiert, zerstöre ich euch, das schwöre ich dir. Ich werde dafür sorgen, dass eure gesamte Dynastie ausgelöscht wird. Keiner von euch wird sich retten können.
Keiner
.«
Lucan starrte ihn voller Wut an, wandte dann aber erstaunlicherweise den Blick ab.
»So wenig du mich beeindruckst, Shade … du hast recht.«
Damien sah ihn verblüfft an. »Wie bitte?«
»Du hast recht.« Lucans tiefe, melodiöse Stimme klang angespannt. »Als Chaos fiel, geschah das aus freien Stücken. Die Zerstörung, die er angerichtet hat, bevor wir ihn einfangen konnten, war riesig. Zu dem Zeitpunkt hatte er bereits eine Anhängerschaft gefunden. Dunkle Wesen. Wesen, die vor so langer Zeit gefallen waren, dass nichts Gutes mehr in ihnen existierte. Normalerweise hätten wir ihn wohl zerstört, wie wir das mit allen Dämonen täten, die sich nicht schnell genug in Sicherheit brachten. Aber … er war unser Bruder. Wir haben vielleicht gedacht, er würde eines Tages zu uns
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