Verwechseljahre: Roman (German Edition)
können.«
»Okay. Jetzt reden wir in Ruhe.« Er griff nach seiner Mineralwasserflasche. »Nur dass ich im Gegensatz zu dir keinen Alkohol dafür brauche. Falls du in irgendeiner Weise auf mein Suchtproblem anspielen willst.«
Schon wieder so ein Schlag unter die Gürtellinie. Er gehörte zu den Menschen, die grundsätzlich mit einem Gegenangriff reagieren, weil sie nicht in der Lage sind, auch nur leiseste Kritik an sich heranzulassen. Er steckte metertief in der Scheiße, suchte aber beim Gegner krampfhaft nach Schwächen, um von sich abzulenken. Er pokerte! Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass Frechheit siegte. Ich durfte mich davon nicht beirren lassen. Ich sah ihm ins Gesicht und versuchte, meinen Sohn hinter der Maske zu sehen. Meinen kleinen Oliver, der mich damals beim Stillen zu unverwandt angesehen hatte, aus diesen schwarzen Augen, die mich nun hasserfüllt anstarrten. Es waren dieselben Augen. Es war derselbe Mensch. Diese Erkenntnis traf mich wie ein Keulenschlag.
Im Grunde war er seelisch völlig verwahrlost. Ein Junge, der alles im Leben hatte, der mit Liebe und Zuwendung überschüttet worden war, dessen Eltern ihn gedeckt und geschützt hatten, bis es nicht mehr ging, und der jetzt um sich biss wie ein tollwütiger Hund! Er war seelisch krank, warum auch immer. Waren alle adoptierten Kinder seelisch krank? War es vielleicht besser für sie, wenn sie niemals von ihrer wahren Herkunft erfuhren? Denn das verletzte sie, brachte sie aus dem Gleichgewicht. Machte Schiffbrüchige aus ihnen. Selbst mein intelligenter, gebildeter Sohn, der im intaktesten aller Elternhäuser aufgewachsen war, war völlig aus der Bahn geworfen worden!
»Du hättest das mit der Adoption niemals erfahren dürfen.« Ich schüttelte traurig den Kopf. »Es wäre besser, wir hätten uns nie getroffen.«
Oh, das tat weh! Das tat so weh! Aber es war die Wahrheit. Lieber hätte ich weiter schmerzliche Sehnsucht nach meinem Fantasie-Oliver gehabt, als diesem aggressiven, gefühlskalten Roman gegenüberzusitzen.
»Du meinst also, weiterlügen wäre besser gewesen?!«
»Ja«, sagte ich mutlos und stand auf. »In deinem Fall schon.«
»Ich bin es also nicht wert, die Wahrheit zu erfahren?«, schrie er wutentbrannt hinter mir her.
»Nein«, sagte ich, schon an der Tür. Mir zitterten die Knie, und meine Stimme zitterte auch. »Wenn aus Wahrheit so viel Hass entsteht, ist es besser, aus Liebe zu lügen.«
Ich schloss die Tür und wankte in mein Zimmer. Dort warf ich mich aufs Bett und brach in Tränen aus. Die Hoffnung, dass Roman leise die Tür öffnen, hereinkommen, mich sanft an der Schulter berühren und »Carin, es tut mir leid« murmeln würde, wurde mit jeder Träne, mit jedem Schluchzer geringer. Ich fühlte mich leer. Alle Hoffnung war verflogen. Es würde keine echte Wiedervereinigung geben. Genau wie nach dem Mauerfall, dachte ich. Erst großes Gejubel auf beiden Seiten, dann viel öffentlichkeitswirksam inszenierte Gefühle, aber letztlich war der Bruch nicht zu kitten. Damit musste man sich abfinden.
Als ich später nach Roman schauen wollte, war er weg. Getrieben von der Stimme meiner Mutter, zwang ich mich, mich zusammenzureißen: Hier wird nicht im Bett rumgelegen und geheult. Dieser Urlaub ist bezahlt, und jetzt ist Essenszeit. Los, aufstehen! Ich nahm eine kalte Dusche, zog mich fein an und schminkte mich sorgfältig. Dann ging ich tapfer zum Abendessen. Erhobenen Hauptes betrat ich das lärmerfüllte Restaurant. Am Buffet traf ich Gregor, der sich gerade Hummer auf den Teller lud.
»Hallo, Carin! Wir haben dich schon vermisst!«
»Ist Roman …« Suchend schaute ich mich um. Mein Herz klopfte.
»Ja klar, da hinten sitzt er, da sitzen wir alle!«
Tatsächlich. An einem lebhaften Achtertisch ganz hinten am Fenster saß Roman im schwarzen Hemd, redete und gestikulierte, als wäre nichts gewesen. Die anderen brüllten vor Lachen, als er irgendeine Pointe von sich gab. Er SPIELTE schon wieder!
»Er meinte, du seist heute Abend …«
»Ja?«
»Na, wie sagt man da … Unpässlich oder so.« Gregor gestikulierte verlegen mit dem Teller, auf dem die Hummerschwänze lagen.
»Ich? Unpässlich?« Ich stemmte die Hände in die Hüften. Das durfte doch nicht wahr sein! »Hat Roman erzählt, ich hätte meine Tage oder was?!«
»Na ja, so ähnlich. Entweder das oder dass du in den Wechseljahren bist.«
Mir entfuhr ein Schnauben. »Roman hat wirklich Humor!«
»Ja, den hat er!« Gregor wurde so rot wie seine Hummer
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