Virgil Flowers 03 - Bittere Suehne
dreißig Jahren für die Agentur und hätten keine Chance auf einen neuen Job, weil sie zu alt und ausgebrannt sind. Einer, vielleicht auch eine Gruppe von ihnen, könnte sie umgebracht haben, um die Kündigung zu verhindern. Das war mein erster Gedanke, als ich von dem Mord an ihr erfahren habe.«
»Hätte der Mord an Ms McDill denn die Kündigungen wirklich verhindert?«, fragte Virgil.
Mann kratzte sich am Kopf. »Keine Ahnung. Vorläufig wahrscheinlich. Ich weiß nicht, wer ihre Anteile erbt. Ich glaube, ihre Eltern leben noch …«
»Ja«, bestätigte Ruth Davies. »Ich kriege jedenfalls nichts.«
»Sie hinterlässt Ihnen nichts?«, erkundigte sich Mann.
»Ich denke nicht, dass sie überhaupt ein Testament verfasst hat«, antwortete Ruth Davies. »Sie war sich ziemlich sicher, dass sie ewig leben würde.«
»Irgendwo muss es ein Testament geben«, meinte Harcourt. »Sie war einfach zu … nicht berechnend, sondern rational, um keins zu haben.«
»Ach was, Lawrence, die Frau war berechnend«, herrschte Mann ihn an und fügte an Virgil gewandt hinzu: »Im Büro nannten sie sie ›MS‹ – die Möse aus Stahl.«
Virgil fragte Mann mit einem Lächeln: »Standen Sie auch auf der Abschussliste?«
»Nein. Das hat sie mir deutlich zu verstehen gegeben.«
»Barney betreut unsere wichtigsten Kunden. Alle sind sehr zufrieden mit ihm. Wenn er tatsächlich gehen würde, könnte er wahrscheinlich etliche abwerben«, erklärte Harcourt. »Ich habe Grund zu der Annahme, dass Erica ihm sogar eine Partnerschaft oder Anteile anbieten wollte.«
Mann neigte den Kopf leicht zur Seite. »Ach. Na so was.«
Virgil hob die Hände. »Und was geschieht jetzt? Ich meine, mit der Agentur?«
Mann und Harcourt sahen einander an.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Mann.
»Wir organisieren hier alles und fliegen dann in die Twin Cities zurück«, sagte Harcourt zu Mann. »Da berufen wir eine Sitzung ein, und zwar sofort. Bis Montag muss eine neue Geschäftsleitung etabliert sein. Bevor die ersten Kunden anrufen.«
»Und was ist mit mir?«, fragte Ruth Davies.
Wieder sahen Harcourt und Mann einander an. Keiner von ihnen sagte: »Keine Ahnung.« Doch Virgil las die Antwort genau wie Davies in ihren Gesichtern.
Virgil machte sich Notizen und befragte Harcourt, Mann und Davies einzeln. Harcourt und Mann gaben an, am Vortag in den Twin Cities gewesen zu sein, und nannten Virgil die Personen, die sie getroffen hatten. Wenn keiner von ihnen log, schlossen die Alibis sie als Mörder aus, weil die Twin Cities zu weit weg waren, um problemlos von dort zum Eagle Nest und wieder zurück zu kommen.
Ruth Davies hatte kein Alibi. Sie habe sich unwohl gefühlt, behauptete sie, und sei erst gegen Mittag aufgestanden, um in einem Supermarkt, wo man sich vermutlich nicht an sie erinnerte, Lebensmittel zu kaufen. Nicht völlig genesen – »Ich glaube, ich hatte was Schlechtes gegessen« –, habe sie geputzt und eine DVD angeschaut und sei zeitig mit einem Buch zu Bett gegangen. Leider hinterließen weder DVDs noch Bücher elektronische Spuren.
Als Ruth Davies merkte, welche Richtung die Befragung nahm, erklärte sie entsetzt: »Ich hätte Erica niemals etwas angetan. Sie war meine große Liebe. Wir waren sechs Jahre zusammen … Mit Waffen kenne ich mich nicht aus. Ich bin noch nie hier gewesen. Ich wusste ja nicht mal, wo die Lodge ist …«
»Führten Sie eine … äh … offene Beziehung mit Erica?«
»Nein. Anfangs gingen wir auch mit anderen Frauen aus, wenn Sie verstehen, was ich meine …«
»Ja.«
»Doch sobald ich bei ihr eingezogen war, lebten wir monogam.«
Virgil nickte. »Okay. Ich glaube Ihnen, wenn Sie sagen, Sie hätten Erica niemals etwas zuleide getan, aber ich musste Sie fragen. Es hätte ja sein können, dass es eine dritte Person gab, die eifersüchtig auf Sie war.«
»Dann hätte diese dritte Person doch sicher mich ermordet, oder?«, sagte Ruth Davies. »Man erschießt nicht denjenigen, den man begehrt.«
»Man erschießt denjenigen, der einen verschmäht«, erklärte Virgil.
Ruth Davies sank in sich zusammen. »Oh, Gott. Möglicherweise gab es da tatsächlich eine andere Beziehung, aber die war vor einem Jahr zu Ende.«
»Mit wem?«
Sie zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht. Ich hatte Angst, sie zu fragen und etwas ins Rollen zu bringen, und habe mich lieber bemüht, die Bindung zwischen uns zu verstärken.«
»Sie müssen doch jemanden im Verdacht haben …«
»Ich hatte lediglich das Gefühl, dass
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