Virgil Flowers - 04 - Blutige Saat
kehrte zum Truck zurück und sagte: »Fahren Sie weg.«
»Glauben Sie, Sie kommen rein?«, fragte Lee Coakley, die auf ein Nein zu hoffen schien.
»Ich denke schon«, antwortete Virgil. »Ich nehme meine Kamera und mein Buttermesser mit.«
»Sie haben ein Buttermesser dabei?«
»Ja, vom Holiday Inn …«
Er holte seine Kamera vom Rücksitz und hängte sie sich um den Hals. Sie wendete den Truck, blass im Licht der Scheinwerfer, das von der Wand des Farmhauses zurückgeworfen wurde, und entfernte sich. Virgil trat an die Tür, rüttelte daran und machte sich mit dem Buttermesser an die Arbeit. Wenig später war er im Haus.
Drinnen rief er: »Mr. Rouse? Mr. Rouse?« Keine Antwort. Er pfiff, um einen möglicherweise lauernden Hund zum Bellen zu bringen. Nichts. Virgil streifte sich sorgfältig die Füße ab, ging einige Stufen hinauf und erreichte die Küche, in der über dem Herd eine Neonleuchte brannte. »Mr. Rouse?«
Weiter die Treppe hinauf, ins Schlafzimmer der Rouses. Virgil klemmte die Taschenlampe zwischen die Zähne und durchsuchte hastig die Schubladen im Schlafzimmer, wo er ein Sexspielzeug, einen Vibrator und etliche durchsichtige Negligés fand. Er schlich, unruhiger werdend, ins Zimmer des Mädchens, schaute in die Kommode, entdeckte darin weitere Unterwäsche. Wäsche, die er eher bei einer Frau über vierzig erwartet hätte.
Virgil ging die Stufen wieder hinunter, sah sich im Erdgeschoss um, betrat ein kleines Büro mit Computer und zwei Druckern, einer ein kleiner Canon Photo Printer, daneben eine Box mit neuem Fotopapier. Im Schrank eine alte Fotoausrüstung, darunter Kleinbildkameras, drei Polaroids sowie ein Diaprojektor ohne Dias. Er zog die Schubladen von vier Aktenschränken heraus.
Keine Fotos, keine weiteren Kameras.
Irgendwo mussten Fotos sein, denn da war dieser Drucker. Virgil kehrte in das große Schlafzimmer zurück und schaute unters Bett. Nichts. Warf einen Blick in die Schränke. Einer war ziemlich groß und voller Kleidung, der andere schmal. Etwas stimmte damit nicht.
Virgil betrachtete die seitliche Wand genauer und fand auf halber Höhe eine von Jacken verborgene Fuge. Als er dagegendrückte, öffnete sich eine kleine Tür, und dahinter befanden sich aufeinandergestapelte Schachteln voller Fotos.
Er hob die oberste, einen alten Schuhkarton, herunter und trug sie zum Bett. Hunderte von Bildern, alle pornografisch, ein Mann mit einer oder zwei Frauen, zwei Männer mit zwei oder drei Frauen, zwei oder drei Männer mit einer Frau.
Frauen und Kinder.
Mit der Taschenlampe zwischen den Zähnen nahm Virgil ein Dutzend heraus und legte sie so aufs Bett, dass er sie fotografieren konnte.
Lee Coakley meldete sich über Funk: »Da kommt jemand. Ist noch gut eineinhalb Kilometer weg.«
»Scheiße«, sagte Virgil, schob die Fotos in seine Tasche, setzte den Deckel auf die Schachtel und stellte diese an ihren Platz zurück. Es dauerte eine Weile, bis er die kleine Tür wieder an Ort und Stelle hatte. Dann hastete er die Treppe hinunter, durch die Küche und den Vorraum und hinaus, rannte über den Hof zur Seite der Scheune, hielt das Funkgerät an den Mund und fragte: »Wo sind sie?«
»Sie kommen näher. Sind Sie draußen?«
»Ich laufe die Auffahrt runter«, antwortete er. »Jetzt sehe ich sie auch.«
Der Wagen war fünf- bis sechshundert Meter entfernt und näherte sich mit einer Geschwindigkeit von etwa siebzig Stundenkilometern. Virgil verbarg sich in einem Graben neben der Auffahrt hinter einer Thujenhecke.
Er versuchte, nicht an den Wagen zu denken, denn wenn man an jemanden dachte, glaubte er, kamen die Gedanken bei dem Betreffenden an, und man wurde entdeckt. Objektiv betrachtet war das Unsinn, doch bei früheren Observationen hatte es sich als subjektiv richtig erwiesen.
Der Wagen fuhr vorbei, die Straße entlang. Das waren nicht die Rouses gewesen. Trotzdem würde Virgil nicht in das Haus zurückkehren.
»Oh, Mann«, sagte er ins Funkgerät.
»Ich komme«, verkündete Lee Coakley.
Als er im Truck saß, sagte sie: »Grässlich. Schon der Versuch war Wahnsinn.«
Virgil nickte. »Stimmt.«
»Nichts, oder?«
»Doch. Vielleicht sogar alles.« Er holte die Fotos aus der Tasche. »Fahren wir irgendwohin, wo wir uns die in Ruhe ansehen können.«
Auf dem Weg zu Virgils Truck sagte sie: »Dieser verdammte Flowers. So haben die andern Sie genannt, und jetzt weiß ich, warum. Das war …«
»Das Gefühl kenne ich.«
»Ich sollte uns anzeigen. Das wäre die
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