Vogelwild
der wertvollen Steinplatten, die nun in den Himmel gereckt wurden, wie
eine befremdliche Opferzeremonie. Hollywood, dachte er. Wie im Monumentalfilm »Die
Zehn Gebote«, als Charlton Heston als Moses die Tafel mit den Gesetzen Gottes
präsentierte.
Langsam kamen Morgenstern und Hecht näher. Sie waren
erst fünf Meter über dem Boden. Selbst wenn die Studenten die Platten nun in
die Tiefe schleudern würden: Sie würden der Wissenschaft, wenn auch als
Bruchstücke, erhalten bleiben. Hecht hielt die Pistole immer noch im Anschlag.
Zwanzig Meter noch, dann fünfzehn, jetzt nur noch zehn. Morgenstern legte sich
bereits die Worte zurecht: Ich verhafte Sie wegen der Morde an Mustafa Önemir
und an Carola Messmer.
Plötzlich ertönte von unten eine laute, sich
überschlagende, fast hysterische Stimme: »Herr Professor, Herr Professor! Das
ist eine Spielzeugpistole. Die sind unbewaffnet! Es ist nur eine
Spielzeugpistole!«
Ungläubig beugten sich Hecht, Morgenstern und Heine
über das Geländer: Am Fuße des Turmes stand Lars Maier. Maier, der Hasenfuß,
Maier, das Muttersöhnchen, Maier, die Heulsuse, Maier, der Versager. Maier, der
brav im Auto sitzen bleiben sollte.
»Scheiße!«, fluchte Morgenstern, und Hecht schleuderte
die falsche Pistole wütend in die Tiefe.
Der Professor reagierte in Sekundenschnelle. Er nahm
eine der Steinplatten an sich, gab zwei kurze Kommandos, und dann rannten er
und einer seiner Studenten weiter in Richtung Spitze des Turms. Der andere
junge Mann stellte sich den Verfolgern nun auf der schmalen Rampe mit geballten
Fäusten in den Weg.
»Aus der Bahn, du Pfeife!«, befahl Morgenstern ruppig
und wollte den Studenten zur Seite drücken, doch der verpasste Morgenstern im
folgenden Handgemenge einen kräftigen Schlag in die Magengrube. Für einen
kurzen Moment blieb dem Oberkommissar die Luft weg, doch dann hatte sich Hecht
bereits an dem Studenten vorbeigeschummelt, und auch Morgenstern schaffte es
nun, ihn mit einem wuchtigen Schulterstoß gegen das Geländer des Metallsteges
zu fegen. Der Weg nach oben war jetzt frei, aber Heines Vorsprung war bereits
gewaltig: mindestens fünfzig Meter – und das in schwindelerregender Höhe.
Morgenstern blickte kurz nach unten, als ein Polizeiauto auf das Gelände des
Schotterwerks einbog. Endlich, die siebte Kavallerie!, dachte er erleichtert.
Die Polizeibeamten der Inspektion Eichstätt würden mit Sicherheit echte
Pistolen dabeihaben.
Der Professor war nun fast am Ende des Förderbandes
und damit im obersten Stockwerk des Brechanlagen-Gebäudes angelangt, wo das
Band von der Dunkelheit verschluckt wurde. Die Rampe für die Fußgänger endete
direkt daneben an einer Metalltür. Der Professor rüttelte mit der rechten Hand
an ihr, während er mit der linken die Steinplatte hielt. Triumphierend stieß
Morgenstern die geballte rechte Faust in die Luft: Die Tür war versperrt.
»Geben Sie auf, Heine!«, rief der Oberkommissar beim
Näherkommen dem Professor zu. »Sie sitzen in der Falle! Sie und ihr Student
legen jetzt beide die Platten auf den Boden, und dann gehen wir gemeinsam nach
unten!« Beschwörend fügte er hinzu: »Dann wird niemandem etwas passieren.«
Der junge Mann sah anscheinend ein, dass die Jagd zu
einem Ende gekommen war. Folgsam legte er die ockerfarbene Steinplatte auf den
Gitterrost zu seinen Füßen.
»Du Judas!«, presste Heine wütend heraus, als er sah,
dass der Student aufgab.
Jetzt kamen auch zwei uniformierte Polizeibeamte die
Rampe herauf. Viel zu langsam, wie Morgenstern feststellen musste, aber von
unten war die Dramatik der Situation wahrscheinlich auch nicht zu erkennen.
Wenigstens war er nicht allein. Neben ihm stand der getreue Spargel, der nun
ebenfalls auf den Professor einredete.
»Machen Sie nicht alles noch schlimmer, Herr
Professor. Kommen Sie langsam zu mir rüber«, befahl er.
»Das würde Ihnen so passen, was? Das würde allen hier
so passen.« Heine hatte sich an der verschlossenen Tür den beiden
Kriminalbeamten zugewandt, die wie versteinert fünf Meter von ihm entfernt
verharrten. »Gott hat mich in die Welt gesandt, um den Glauben an sein Wort
wiederherzustellen. Diese Welt ist voller Ungläubiger, voller Wissenschaftler,
die nur darauf warten, dass sie Gottes heiligen Namen lästern können. Doch ich
stelle Gottes Ehre wieder her, das ist meine Mission. Das hab ich meinen
Freunden in den Vereinigten Staaten geschworen.«
»Herr Heine«, sagte Morgenstern vernünftig. »Niemand
lästert Gott, nur
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