Vogelwild
gerne auf die Leiter, und seit meiner
Operation geht da gleich gar nichts mehr.«
Morgenstern nickte verständnisvoll.
»Frau Aurich, wann haben Sie Herrn Akatoblu zuletzt
gesehen?«, fragte Hecht mit amtlicher Miene.
Die alte Dame dachte angestrengt nach. »Am
Freitagmittag? Nein. Am Freitagabend war er nochmals kurz da und hat mir sogar
noch meinen Müll runtergetragen. Anschließend ist er dann mit seiner
Sporttasche zum Auto gegangen. Ich dachte, er käme gleich wieder, wegen meiner
Vorhänge. Aber nichts da. Und sehen Sie sich jetzt die Bescherung an: Das ganze
Wochenende lang habe ich keine Stores gehabt, und jeder konnte mir zum Fenster
reinschauen. Ach, es ist schon ein Kreuz, wenn man keinen Mann mehr im Haus
hat.« Hoffnungsvoll blickte sie Morgenstern und Hecht an: »Aber Sie, Sie sind
doch jung und stark, nicht wahr? Könnten Sie nicht einer armen, alten Frau ein
bisschen helfen? Ich habe doch sonst niemanden.« Erneut bahnte sich eine Träne
ihren Weg über Rosa Aurichs Gesicht.
Hecht warf Morgenstern einen verzweifelten Blick zu
und verdrehte die Augen. Wehe! Morgenstern zögerte kurz. Gegen Tränen hatte er
noch nie argumentieren können, und außerdem sagte ihm sein Gefühl, dass die
investierte Zeit hier gut angelegt sein könnte, wenn es ihm nur gelänge, aus
dem Wortwasserfall das entscheidende Schwemmgut herauszufischen. Allerdings
wäre es schon ein extrem hoher Preis, dafür die Aurich’schen Vorhänge auf die
Gardinenstangen zu fädeln. Ja oder nein? Morgenstern rang mit sich, entschied
sich dann aber tatsächlich für eine Absage: »Es tut uns schrecklich leid, Frau
Aurich, aber wir sind im Dienst und müssen als Beamte unserem Chef Rechenschaft
über unsere Arbeitszeit ablegen. Und wenn der hören würde, dass wir als
Amtspersonen Gardinen aufgehängt haben, dann reißt er uns den Kopf runter.«
Erleichtert blies Hecht die angehaltene Luft aus den
Backen, während Rosa Aurich enttäuscht die beiden Ermittler anschaute, sich
aber notgedrungen fügte.
»Nun ja, der Ali wird schon wieder auftauchen. Dann
muss er mir als Erstes eben die Stores aufhängen«, sagte sie seufzend.
»Wenn er wieder auftaucht, könnten Sie mich dann kurz
anrufen?«, bat Morgenstern und fingerte eine etwas angeknitterte Visitenkarte
aus seinem Geldbeutel. »Hier steht meine Telefonnummer. … Und es wäre besser,
wenn Sie Herrn Akatoblu nichts von unserem Besuch erzählen würden. Nicht dass
er sich am Ende wegen so einer Lappalie Sorgen macht.«
Frau Aurich drehte und wendete die Visitenkarte in
alle Richtungen und ließ das Papier dann in der Tasche ihrer Kittelschürze
verschwinden. »Und ich darf ihm wirklich nichts sagen?«, fragte sie gequält.
Ihr war anzuhören, wie schwer es ihr fallen würde, das Geheimnis nicht nur vor
Ali Akatoblu, sondern auch vor der gesamten Nachbarschaft zu bewahren.
»Pschschscht!«, machte Morgenstern und hob
verschwörerisch den rechten Zeigefinger vor seinen Mund. Er ließ sich noch kurz
Aurichs eigene Telefonnummer diktieren, dann verabschiedete er sich mit einem
knappen, festen Händedruck von der Seniorin und blickte ihr tief in die Augen.
Als er sich von ihr abwendete, fiel ihm endlich auf, was ihn instinktiv schon
während des gesamten Gespräches irritiert hatte: Die gute Frau Aurich hatte
ihre dritten Zähne noch nicht eingelegt.
Wieder
auf der Straße atmete Hecht erst einmal tief durch: »Ich dachte schon, wir
müssten jetzt zu Hausmeistern umschulen. Einen Moment lang war ich sicher, du
würdest dich von der Alten um den Finger wickeln lassen. Danke, Mike.«
Gemeinsam schritten sie den Gehweg entlang zum Auto.
»Und ich bin auch immer noch unsicher, ob unser
geordneter Rückzug die richtige Entscheidung war. Irgendwie werde ich das
Gefühl nicht los, dass die Frau mehr weiß, als sie uns gesagt hat.«
»Das kam mir auch so vor. Die weiß noch viel, viel
mehr – aber ich weiß auch, dass ich das nicht alles wissen will.«
»Öha, jetzt wirst du ja richtig philosophisch«,
flachste Morgenstern, als sie in den Wagen stiegen. Ein letzter Blick zurück
offenbarte Rosa Aurich, die im zweiten Stock am vorhanglosen, blitzblank
geputzten Fenster stand und ihnen noch lange nachschaute. In der Hand hielt sie
den Telefonhörer.
Morgenstern
fuhr ihren zivilen Dienstwagen nur zwei Straßen weiter und parkte ihn dort
außerhalb von Aurichs Sichtweite. »Und? Was machen wir jetzt?«, fragte er.
Aber Hecht war genauso ratlos wie sein Kollege. »Dieser
Akatoblu kann überall
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