Volk der Finsternis - Horrorgeschichten (H. P. Lovecrafts Bibliothek des Schreckens) (German Edition)
asiatische Angelegenheiten einzumischen. Im Gegensatz zu Lannon habe ich Brand nie gemocht und ihn auch nie ins Vertrauen gezogen. Nach meinem Geschmack besaß dieser arrogante, raffinierte Lebemann eine zu gleichgültige Einstellung zum Leben. Er hatte andere Ansichten als ich, was menschliche Werte betraf, und behauptete, jede Art menschlicher Bemühungen, Gefühle und Ambitionen zu verabscheuen. Nun, ich bin nur ein einfacher Seemann, unkultiviert und ungebildet und ganz gewiss kein Feingeist. Ich lebe nach dem Leitspruch »Auge um Auge, Zahn um Zahn« – das war auch der Grund, weshalb ich in dieser stillen, nebligen Nacht alleine auf der Suche nach Yotai Yun war.
Beim Abtasten stellte ich fest, dass ich mich in einem sehr engen Gang befand, und bald erreichte ich eine schmale Steintreppe, die nach oben führte. In völliger Dunkelheit krabbelte ich hinauf und fand mich plötzlich, wie es schien, in einer weiteren Kammer wieder. Ich konnte jedoch noch immer nichts sehen und wagte nicht, ein Streichholz anzuzünden. Ich knallte mit dem Knie gegen eine Art Kasten und stolperte über mehrere Gegenstände, die mit einem solch entsetzlichen Lärm übereinanderfielen, dass mir beinahe das Herz aus der Brust sprang. Es geschah jedoch nichts, und so tastete ich mich weiter. Bei Gott – dieser Raum war das reinste Waffenarsenal! Meine Finger glitten über haufenweise Gewehre und Kisten voller Pistolen samt Halfter, auseinandergebauter Maschinenengewehre und Munition. All dies deutete klar und deutlich auf eine baldige Revolution oder einen Aufstand hin, und in der Dunkelheit brach mir der Schweiß aus, als ich an all die unschuldigen Europäer, Amerikaner und friedliebenden Chinesen dachte, die in diesen Stunden seelenruhig in Hankow schliefen und nichts von der Gefahr ahnten, die über ihnen schwebte.
Ich tastete mich weiter, bis ich eine Tür fand, die sich, so schätzte ich, ungefähr gegenüber der Stelle befand, an der ich den Raum betreten hatte. Sie war mit einem Riegel verschlossen. Er war jedoch an der Innenseite angebracht, sodass ich ihn leicht öffnen konnte. Durch die Tür trat ich in einen weiteren schmalen Korridor. Von irgendwo drang ein schwacher Lichtschein herein und ich wusste, wo ich mich befand – in einem Geheimgang hinter der Wand. China ist, ebenso wie der gesamte Orient, von einem regelrechten Netz solcher Gänge durchzogen, mit deren Hilfe die Hausherren ununterbrochen ihren Dienern und anderen Personen ihres Haushalts nachspionieren. Ich schlich mich weiter, bis das Gemurmel einer Unterhaltung an mein Ohr drang. Es erklang hinter der Mauer. Ich hielt inne und suchte nach dem Guckloch, das ganz in der Nähe sein musste. Bald fand ich es und blickte hindurch.
Ich sah in einen großen, aufwendig ausgestatteten Raum, an dessen Wänden samtene Wandbehänge mit eingewirkten Drachen, Göttern und Dämonen hingen. Er war von Kerzen erleuchtet, die den Raum in ein eigenartig goldenes Licht tauchten. Auf seidenen Kissen und Diwans saß rundum eine seltsame Gruppe bunt gemischter Gestalten – respektable Kaufleute, niedere Regierungsangestellte und wilde, böse dreinblickende Kerle, die allesamt nach Mördern oder Halsabschneidern aussahen. Ich erkannte den Flusspiraten, der vor mir in den Tunnel hinabgestiegen war, und mir wurde klar, weshalb es den geheimen Eingang gab. Den Tunnel nutzten Gauner und Kriminelle, die nur unnötig Verdacht auf das Dragon House gelenkt hätten, wären sie zum Vordereingang eingetreten.
Insgesamt zählte ich im ganzen Zimmer etwa vierzig Männer, alle Asiaten – die meisten stammten aus China, aber ich sah auch ein paar Eurasier und Malaien. Alle hatten Platz genommen und ihren Blick auf ein Podium am anderen Ende des Raumes gerichtet. Auf dem Podium saß Yotai Yun – schlank, boshaft, falkenartig – und neben im hockte eine große Gestalt mit schwarzem Umhang, deren Gesicht unter einer schwarzen Maske verborgen war – der Vermummte Lama! Er war also kein Mythos, sondern grausame Wirklichkeit. Ich betrachtete ihn genau; unter seiner Kapuze blitzten zwei stechende, magnetische Augen auf. Aus ihm schien das pure Böse herauszuströmen und ihn wie eine Aura zu umgeben. Ich erschauderte unwillkürlich. Dann erhob er sich zu seiner vollen, entsetzlichen Größe und begann zu sprechen, und sein Publikum klebte förmlich an seinen Lippen. Ich schüttelte mich vor Abscheu, als ich den blasphemischen Worten lauschte, die in vornehmem Chinesisch über seine unsichtbaren
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