Voll erwischt
angezogen hatte, schließlich konnte er nicht wissen, daß er jemanden beschatten mußte. Aber heute hatte er es gewußt und es trotzdem wieder angezogen.
Warum?
Er führte es auf Erschöpfung zurück. Es gab nur zwei andere mögliche Antworten, aber keine davon traf auf ihn zu. Die eine lautete, daß es ihm gleichgültig war. Die andere, daß er entdeckt werden wollte.
Je mehr er über das Hemd nachdachte, desto bewußter wurde Gus, daß es eine weitere Eigenschaft hatte, die sogar noch beunruhigender war. Es begann allmählich zu stinken.
Um Viertel vor neun trat Norman Brown aus dem Fahrstuhl und ging in den Frühstücksraum. Er stolzierte immer noch. Er trug einen leichten Sommeranzug in einem modernen Beigeton. Das Hemd unter dem Jackett war pflaumenfarben mit weißem Kragen und weißen Knöpfen. Dazu Tennisschuhe ohne Socken. Die Klimaanlage des Hotels hielt die Temperatur angenehm niedrig, aber draußen vor den Fenstern stand die Sonne bereits hoch am Himmel, und der Tag schickte sich an, wieder knallheiß zu werden.
Während Norman frühstückte, spielte Gus mit dem Gedanken, schnell in die Stadt zu laufen und sich ein frisches Hemd zu kaufen. Aber er brachte es einfach nicht fertig aufzustehen. Da war zum einen die Angst, seine Zielperson zu verlieren, aber der wirkliche Grund hieß Erschöpfung. Also würde er sich gehüllt in einen Schleier aus Körpergeruch durch den Tag bewegen? Verdammt hart.
Wenn Bewegung in etwas kommt, dann passiert alles auf einmal. Man wartet Stunde um Stunde. Der Hintern wird taub, die Füße werden kalt, das Hirn ist komplett blockiert. Und dann, wenn man überhaupt nicht darauf vorbereitet ist, springt der Bursche, den man beschattet, auf die Füße und schreitet entschlossen in die Welt hinaus. Norman Brown kehrte nicht auf sein Zimmer zurück, er verließ den Frühstücksraum, an einem Stück Toast knabbernd, und marschierte schnurstracks zu den Eingangstüren des Hotels. Als er an der Rezeption vorbeikam, verneigte er den Kopf in Richtung der Angestellten dahinter. Gus konnte sein Gesicht nicht sehen, aber welcher Ausdruck auch immer darauf lag, es ließ die Frau wie angewurzelt verharren. Sie hatte das Telefon abnehmen wollen, bevor Norman vorbeiging, doch als er dann kam, starrte sie es einfach nur an und ließ es klingeln. Als Gus die Tür erreichte, ging Norman bereits mit schnellen Schritten an der Vorderseite des Bahnhofs entlang zum Parkplatz.
Gus mußte ein gutes Stück Zurückbleiben, beobachtete aber, wie Norman einen alten Bedford-Transporter aufschloß, vom Parkplatz und zum Hoteleingang fuhr. Sah völlig unpassend aus: der Transporter, der anscheinend von Hand in einer Art Ultramarin gestrichen war, und das Hotel mit seiner modernen Geschäftshausfassade. Genau wie Normans Anzug und Hemd. Der Bursche schien ein Händchen dafür zu haben, Dinge miteinander zu kombinieren, die nicht zusammenpaßten.
Fehlender Geschmack. Oder vielleicht fehlender guter Geschmack. Und dennoch markierte es einen persönlichen Stil, und Normans nicht vorhandener guter Geschmack spielte überhaupt keine Rolle. Über seinen vorhandenen oder fehlenden Geschmack hinaus besaß er eine angeborene Ausstrahlung, die sich in jeder seiner Bewegungen wiederfand. Sie war in seinem Stolzieren präsent, in seinem Gang, aber sie war auch in diesen kleinen Kopfbewegungen vorhanden. Wie er gestern zum Beispiel dieses Mädchen vor Woolworths von oben herab und schräg von der Seite angesehen hatte, und fast die gleiche Bewegung hatte er heute morgen wieder bei der Empfangsdame des Hotels gemacht. Es war, als wären beide Frauen körperlich benommen gemacht worden, nicht k. o. geschlagen oder irgendwie unsanft behandelt, sondern durch etwas erheblich Subtileres - beide waren überwältigt und auf eine Art berührt worden, wonach sie sich nur noch umschauen konnten, um herauszufinden, was da passierte. Doch was immer sie da berührte, es war nicht zu sehen, war unsichtbar.
Norman verschwand im Hotel, und nach ein paar Minuten tauchte er mit einem Portier und mehreren Koffern wieder auf. Um seinen Hals baumelte eine Kamera. Gus besorgte sich vor dem Bahnhof ein Taxi und sagte dem Fahrer, er solle dem blauen Transporter folgen. «Wo geht’s denn hin?» fragte der Mann.
Gus wartete einen Moment, ließ dem Burschen Zeit, um von selbst auf die Antwort zu dieser Frage zu kommen. Aber es funktionierte nicht.
«Wo soll’s denn hingehen?» wiederholte er.
«Deshalb möchte ich ja, daß Sie ihm
Weitere Kostenlose Bücher