Vollmondfieber: Roman (German Edition)
Haarfarbe und Frisur ließen die Frau weit älter erscheinen als der Rest von ihr, der glauben machte, sie sei irgendwo in den Zwanzigern. Sie trug ein wunderschönes graues Seidenkleid, so fein gewebt, dass es im schwachen Licht wie flüssiges Silber schimmerte. Als sie aufmich zukam, wehte ihr Umhang, der aus dem gleichen schimmernden Stoff gefertigt war, hinter ihr her.
Die Vampirkönigin.
Ein einzelner Fingernagel strich über den steinernen Altar, auf dem ich lag, als sie sich Schritt um Schritt näherte.
Krrrraaatz.
»Äh, tut mir leid, Sie zu enttäuschen.« Ich stützte mich auf die Ellbogen hoch. Ich war dankbar dafür, nicht physisch gefesselt worden zu sein. Dabei aber wusste ich sehr wohl, dass dergleichen in Gegenwart der Vampirkönigin mit all ihrer Macht gar nicht nötig war. Die Aura von Macht füllte wie Unwetterwolken den Raum. Was interessierte diese Frau, ob ich beeindruckend war oder nicht? In den Augen von Vampiren war aber sowieso kein Wandler beeindruckend, warum sollte ausgerechnet ich es also sein? Mir konnte es gleich sein. Alles, was für mich zählte, war, so schnell wie möglich hier herauszukommen, in einem Stück, mit heiler Haut und im Besitz all meiner lebenswichtigen Körperflüssigkeiten.
Der Altar, auf dem ich lag, befand sich in einem luxuriös ausgestatteten Empfangsraum, vergleichbar mit dem, was ich mir unter dem Thronsaal eines Schlosses vorstellte – inklusive eines erhöhten Podests, in dessen Mitte ein königlich aussehendes Sitzmöbel stand.
Wie es schien, wurde mir gerade eine Privataudienz bei der Vampirkönigin gewährt.
Wenige Schritte vor mir blieb sie stehen und wartete, den Kopf leicht zur Seite geneigt. Nichts regte sich in ihren Zügen.
Ich hatte keine Ahnung, was von mir erwartet wurde. Also stemmte ich mich in eine Sitzhaltung hoch. Als ich in Position war, sah ich ihr für einen Moment in die Augen und wurde mit einem Energiestoß belohnt, der stark genug war, dass ich die Fingernägel in den Stein unter mir bohrte und kleine mondförmige Kerben darin hinterließ.
Meine Wölfin gab in meinem Bewusstsein wechselnde, unstete Laute von sich, wie ich sie noch nie von ihr gehört hatte. Ganz ruhig. Wir wollen doch nicht jetzt schon in Panik geraten! Statt mir zu antworten, verpasste sie mir einen kleinen Adrenalinstoß. Das Adrenalin strömte durch meine Adern und beruhigte mich, reichte aber nicht, um irgendetwas in Gang zu setzen. Hervorragend! Aber jetzt schön die Ruhe bewahren, wir kommen hier schon wieder raus! Wir sind nicht gefesselt, und sonst ist niemand hier. Vor allem nicht der schreckliche Valdov. Wenn sie uns zum Frühstück hätte verspeisen wollen, dann wären wir jetzt in ihrem Kerker festgekettet oder schon leer gesogen. Ganz klar: An einem Ort wie diesem musste es einen Kerker geben.
»Valdov war ein Narr, dich hierherzubringen«, blaffte die Vampirkönigin, die mich immer noch mit abschätzigem Blick und schief gelegtem Kopf musterte. Ich kam mir vor wie unter einem Vampirmikroskop.
Hä? »Nun, uns hat er den Eindruck vermittelt«, konterte ich, »er führe nur Ihre Befehle aus.«
»Narr!«, krächzte sie, wandte sich abrupt ab und schritt die Stufen des Podests hinauf zu ihrem goldenen Thron. Dort wirbelte sie mit einer ausholenden, eleganten Bewegung und waberndem Umhang herum und nahm Platz. Sie saß da mit gerunzelter Stirn, und die Falten verunzierten ihr umwerfend schönes Gesicht.
Hmm . Statt ihr beim Grübeln zuzusehen, schwang ich die Beine herum und setzte mich auf den Rand des Altars. Dort wackelte ich mit den nackten Zehen und blickte an meiner schmutzigen, zerrissenen Kleidung herab, die immer noch extrem nach Schwefel und Schweiß roch.
Die perfekte Verkörperung einer knallharten Heldin.
Ich hatte keine Ahnung, was die Königin von mir wollte. Aber ich spürte, von der unfassbaren Macht abgesehen, nichts, was unmittelbare Gefahr verhieß. Dass sie sich über Valdov ärgerte, war sicher von Vorteil für mich, wenn ich auch nicht recht wusste,warum. Jemand wie Valdov tat, was ihm gesagt wurde. Immer. Ich beschloss, eine Frage zu wagen: »Wenn Valdov sich Ihren Befehlen widersetzt hat, warum bin ich dann hier?«, erkundigte ich mich.
Die Königin zog die Augen zusammen wie ein Falke. In der Tiefe dieser Augen funkelte ein Fleck Quecksilber so strahlend hell, als würde eine weiße Flamme in ihnen brennen. Ruckartig erhob sich die Königin und trat vor. Kurz vor den Stufen hinunter vom Podest blieb sie stehen und
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