Vollmondfieber: Roman (German Edition)
abstempeln, weil ich die Wandlung nicht vollständig vollzogen habe? Schön, bin ich eben eine Missgeburt! Aber ehrlich, ich bin dankbar, dass es mich nicht umgehauen hat, damit die Wandlung vonstattengehen kann. Denn dann wäre ich jetzt tot. Dann wären all deine schrecklichen Visionen von meinem Tod berechtigt gewesen, und mein blutiger, zerfetzter Leichnam würde dich für alle Zeiten in deinen Träumen heimsuchen. Oder denkst du ernsthaft, der Plüschbär da drüben hätte geduldig gewartet, bis ich meine Wandlung vollzogen habe? Ich hatte keine Zeit!«
»Jess, darum …«
»Schluss, Tyler!«, schrie ich ihn an. Für mich war das Gespräch vorbei. »Wir können später darüber reden. Wenn wir diese Leiche nicht raushaben, ehe Ray auftaucht, wird er uns sämtliche Polizisten der Stadt auf den Hals hetzen. Wenn der einen Toten in meiner Wohnung findet – dann lande ich im Knast. Punkt! Und wir können schließlich nicht einfach alle Polizisten umbringen!«
Tyler schüttelte sich sichtlich und ging zu dem Leichnam. Dort hockte er sich neben James und fragte: »Kennst du ihn?«
»Nein.« James atmete mit offenem Mund tief ein. Seine Nasenflügel bebten. »Sein Geruch ist mir völlig fremd. Also weiß ich sicher, dass ich ihm noch nie persönlich begegnet bin.«
Mein Handy klingelte.
Es lag in der Ecke auf dem Boden, dort, wo meine Handtasche während des Angriffs auf mir gelandet war. Ein Wunder, dass es noch funktionierte. Ich ging hinüber und nahm das Gespräch an, ohne auf die Nummer zu achten.
Wer dran war, wusste ich so oder so.
»Jessica!« , brüllte mein Vater ins Telefon. Ich hielt es meterweit von meinem Trommelfell weg. »Was zumTeufel ist los? Deine Wölfin hat sich jetzt schon das zweite Mal heute Abend mit meinem Wolf in Verbindung gesetzt, und wieder hast du mich ausgeschlossen, Gottverdammt noch mal! Ich kann dir nicht helfen, wenn du das machst!« Sein Zorn war spürbar und füllte den Raum mit einer sengend heißen, physisch wahrnehmbaren Woge aus Gefühlen, die mich wie Sperrfeuer auf endlos vielen Ebenen erwischten.
James’ Miene war undurchdringlich. Tyler wandte sich ab. Beide widmeten sich allein der Frage, wie sie den mysteriösen Angreifer aus meiner Wohnung schaffen könnten. Mich und das Telefonat, das ich führte, blendeten sie vollständig aus.
Ich zog mich in mein Schlafzimmer zurück. »Tut mir leid, Dad. Ehrlich, ich habe keine Ahnung, was los ist. Ich wollte dich nicht ausschließen. Echt, ich mache das nicht mit Absicht. Ich spüre nicht, wenn du dich bei mir meldest. Hätte ich das, hätte ich sofort geantwortet.«
»Jessica, sag mir einfach, was bei dir los ist!«, verlangte Dad und bemühte sich mit aller Macht, sich zu beruhigen. »Ich versuche, dich zu beschützen, aber ich scheine die ganze Zeit am Ziel vorbeizuschießen! So etwas darf nicht sein. Ich fühle dich; ich weiß,dass etwas nicht stimmt. Aber ich kann nicht erkennen, was los ist. Das ist zum Verrücktwerden!«
»Dad, mein Geheimnis ist aufgeflogen. Wir können nicht mehr unter dem Radar durchschlüpfen. Jemand weiß Bescheid. Irgendein mieser Scheißkerl hat auf mich gewartet, als ich nach Hause gekommen bin. Ich war zu sorglos, habe an alles Mögliche andere gedacht …« An was, darauf würde ich auf keinen Fall näher eingehen. »Ich habe einfach nicht aufgepasst. Ich habe keine Ahnung, wie der Typ reingekommen ist. Wahrscheinlich über den Balkon. Denn im Hausflur habe ich ihn nicht gewittert. Es war ein Fehler anzunehmen, ich könnte auch nur einen Tag lang unbemerkt bleiben.« Niedergeschlagen setzte ich mich aufs Bett.
»Ja, wir haben einen schweren Fehler gemacht«, sagte mein Vater. » Ich habe diesen Fehler gemacht, als ich dich nach Hause geschickt habe. Ich hätte auf meinen Instinkt hören sollen. Ich wusste, es bleibt ein Risiko, ganz egal, was wir tun. Aber ich hätte dich hierbehalten sollen, wo ich dich persönlich hätte beschützen können. Was für ein Traumtänzer ich war, mir einzubilden, die Wölfe würden Ruhe geben!«
»Das konntest du unmöglich wissen«, entgegnete ich. »Keiner von uns hat das vorhersehen können. Wir mussten es versuchen, und ich bedauere auch nicht, dass wir es getan haben. Ich habe mein Leben gemocht, und ich gebe es bestimmt nicht gern auf.«
Kurzes Schweigen. »Sag mir, was passiert ist!«, bat er dann. »Alles!«
Ich lieferte ihm einen vollständigen Bericht über die Geschehnisse des Abends. Ich fing mit dem Kobold an und hörte mit der
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