Vollstreckung - Sturm, A: Vollstreckung
die Albertbrücke und kam, als sie sich flussabwärts wandte, an die Figur des Bogenschützen. Sie dachte an den Abend, an dem das Treffen mit Ronny Sander stattgefunden hatte. Das war nun bereits mehrere Tage her und an jenem Abend starb ihre Hoffnung, Witkowski für den Mord an Joachim Haase zur Verantwortung ziehen zu können. Ihre Stimmung näherte sich dem Nullpunkt, damit befand sie sich im Gleichklang mit dem Wetter. War es bis jetzt nur trüb gewesen, fielen nun auch die ersten Tropfen. Karin trotzte dem Regen, stülpte sich ihre Kapuze über und lief das Elbufer entlang bis zur Carolabrücke. Der Regen ließ nach und verschwand so plötzlich, wie er gekommen war. Als Karins Blick in Richtung der Neustädter Elbseite fiel, bekam sie Appetit. Ich bin weit gelaufen, dachte sie, also verbrenne ich ausreichend Kalorien und das Eis wird nicht ansetzen. Sie kaufte sich zwei Kugeln Eis im Waffelbecher und nahm auf einer Bank Platz. Ein Sperling hüpfte bis zu ihrem Fuß und sah bettelnd zu ihr hoch. Karin liebte Spatzen. Diese auf den ersten Blick unscheinbaren Vögel, beeindruckten sie durch ihre Lebhaftigkeit und ihr schönes braun-weißes Gefieder. »Von meiner Waffel gebe ich dir nichts ab«, sagte Karin zu dem Spatz. »Das ist ungesund für dich.« Sie griff in ihren Rucksack und holte Vogelfutter, welches sie für Gelegenheiten wie diese immer bei sich trug, heraus und warf dem Sperling ein paar Körner zu. Der Vogel pickte sofort nach dem Futter und interessierte sich nicht mehr für die Spenderin. Das Eis und die Begegnung mit dem Spatz verjagten die trübe Stimmung. »Vielen Dank, liebe Karin, wäre nicht zu viel gewesen«, sagte Karin lächelnd zu dem immer noch eifrig pickenden Vogel und setzte ihre Wanderung fort. Nach der Augustusbrücke wich sie vom Wege ab und begab sich direkt zum Elbufer hinunter. Doch als sie über die Wiese ging, bemerkte Karin, dass die gesamte Fläche fast lückenlos von Hundekot bedeckt war. Still über die rücksichtslosen Hundebesitzer schimpfend, stakste Karin, achtsam den braunen Tretminen ausweichend, zum Weg zurück. An der Marienbrücke beschloss sie, das Elbufer zu verlassen. Sie plante, den Fluss zu überqueren und sich dann in Richtung Altstadt zu bewegen.
Auf dem ersten Treppenabsatz des Aufstiegs zur Marienbrücke verweilte Karin und lehnte sich an das Geländer. Von oben sah sie zwei Frauen Hand in Hand den Elbweg entlang schlendern. Die zwei Frauen waren sogar beim Gehen einander zugewandt. Sie strahlten Glück und Liebe füreinander aus. Karin fand, dass durch das Glück dieses Paares der trübe Tag aufgehellt wurde. Sie sah ihnen nach und freute sich an der Zweisamkeit der ihr unbekannten Frauen. Auf einmal verschwamm das Bild vor ihren Augen. Sie sah zwei andere Frauen. Die eine war Sarah Lefort und die andere eine große, kräftige Frau. Und auch diese Frauen waren in Liebe miteinander verbunden. Endlich war der Gedanke, der im Grundschlamm des tiefen Sees lag, an die Oberfläche gestiegen und Karin sah auf einmal alles klar. Sie schmunzelte, als sie leise zu sich sagte: »Das hat aber lange gedauert, mein Mädchen.« Dann sah sie sich vorsichtig um, ob auch niemand ihr Selbstgespräch verfolgt hatte. Lächelnd und immer schneller stieg Karin die Treppe weiter empor. Sie hatte es auf einmal sehr eilig, sie musste dringend mit Sandra sprechen.
20. Kapitel
»Heute Abend gehen wir zusammen aus.« Mit diesem Satz stürmte Karin zu Sandra ins Büro.
»Fein, wohin soll es gehen?«
»Dazu muss ich etwas ausholen.« Karin lehnte sich in ihrem Stuhl zurück, verschränkte die Hände vor dem Bauch und begann: »Als ich gerade durch die Stadt streifte, begegnete ich zwei Frauen, die Hand in Hand gingen. Ein Liebespaar. Da hob sich endlich der Vorhang vor meinen Augen und ich sah klar. Unsere gesuchte Täterin war Sarahs Geliebte. Was mich am meisten wurmt, ist dass ich so lange gebraucht habe, das Offensichtliche zu erkennen.«
Sandra riss ihre ohnehin schon großen Augen noch weiter auf. »Aber sie war doch mit Pfeffer liiert.«
»Vielleicht war sie bisexuell, aber ich vermute eher, sie kämpfte, wie so viele, gegen ihr wahres Naturell. Sie wollte es einfach nicht wahrhaben, dass sie lesbisch ist. Sie wird sich dagegen gesträubt haben, bis sie letztendlich einsah, dass sie nur so ihr Glück findet.«
Während Karin diese Worte sprach, ging in ihr eine Veränderung vor. Als sie ihre Entdeckung verkündete, wirkte sie siegessicher und euphorisch, aber jetzt
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