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Vom Dorf - Abenteuergeschichten zum Fest

Titel: Vom Dorf - Abenteuergeschichten zum Fest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Rávic Strubel
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Lichterskelette ohne Schatten. Meine Kerze flackerte auf und verlosch.
    Wir hatten den Fall Berenice nie geklärt. Wir klärten solche Dinge überhaupt nicht auf, wie ich jetzt bemerkte, das |160| schien der Halt unserer Freundschaft zu sein. Über Unstimmigkeiten gingen wir hinweg, so lange sie zum Kleinkram gehörten. Alltäglichkeiten haßten wir. Wir versuchten, ohne sie auszukommen. Geriet die eine von uns doch in Versuchung, über die Erniedrigungen und Zerwürfnisse des täglichen Lebens zu lamentieren, lenkte die andere das Gespräch sofort in eine neue Richtung. Normalität war oberstes Tabu, sie war unnötig, wo wir ja über alles Mögliche reden konnten, und am liebsten redeten wir über das, was die meisten für unvorstellbar hielten. Das schien, jedenfalls mit meiner Freundin, grenzenlos zu sein, und Berenice gehörte auch irgendwie in diesen Bereich. Sie war so etwas wie eine Lichtgestalt gewesen. Ein Engel. Eben auch eine flatterhafte Figur, denn kaum hatte sie mir Glück gebracht, war sie schon wieder verschwunden. Das Internet-Subjekt irrte sich; ich hatte Berenice nie gehabt.
    Nur meine Freundin vom Dorf war mir über die Jahre näher gerückt. Ich wußte zwar immer noch nicht, wie sie lebte oder mit wem sie die Zeit verbrachte, in der ich nicht bei ihr war, aber wenn ich bei ihr war, hatte sie Zeit, bis ich ging. Ich hatte mir vorgenommen, eines Tages unangemeldet bei ihr aufzutauchen, um zu sehen, was sie ohne mich tat, und diese fiese Mail schien der geeignete Anlaß zu sein.
    Ich hatte eine dunkle Ahnung, wer der Absender war. Sicher war ich mir allerdings nicht, denn er verbarg sich hinter einer dieser coolerhü[email protected] -Adressen, wie wir sie im Netz alle haben. Ich heiße [email protected] . Auch nicht aussagekräftiger. Vielleicht war die Drohung genauso aus der Luft gegriffen wie alles, was man sich so zuschustert, wenn Gesicht und Stimme fehlen.
    Vielleicht aber auch nicht. Es hatte eine Phase gegeben, da hatte ich sehr innig mit der geschrieben, von der ich annahm, |161| daß sie sich hinter coolerhü[email protected] verbarg, wir waren uns persönlich näher gerrückt, natürlich ohne je unsere wahre Identität preiszugeben, das ist ja der Witz beim Internet, sonst wäre man so schnell nicht so offen. Aber irgendwann gab coolerhüpfer zu, sie würde unsere Diskussionen wiederum mit anderen diskutieren und ihnen meine Briefe weiterleiten, und da hatte ich geschrieben,
sind wir hier bei der Stasi?,
und das auch an alle ihre Freunde cct, und seither hatte Funkstille, also ein pinkfarbenes Schweigen geherrscht. Ich hatte ihr auch von Berenice geschrieben, wie sie mir im Traum erschienen und kurz vor Heiligabend zu meinem Christkind am Roulettetisch geworden war. Und coolerhüpfer hatte gesagt, kannst du sie mir ausleihen, und ich hatte geschrieben, ich frag sie, und wenn sie will, ja.
    Und diese Vergangenheit holte mich jetzt wieder ein, die Rückkehr des ewig Gleichen, zum Glück hatte ich coolerhüpfer nie meine Adresse oder meinen richtigen Namen mitgeteilt.
    Aber wer geschickt war, fand das leicht heraus.
    Draußen tobte der Nebel, ein fetter Londoner Weihnachtsnebel, wenn das nicht ein Zeichen von Globalisierung ist, dachte ich, was aber weder Berlin noch den Nebel und eigentlich auch mich nicht kümmerte, denn mir lag die Email schwer im Magen. Ich zog mir hastig den Mantel an, und als ich an der Wohnungstür war, fing mein Bäumchen beim Abschied traurig an zu nadeln.
    »Du! Hast du vagessen, du. Apfelsine!« Der türkische Gemüsehändler stellte sich mir vor der Haustür in den Weg und brüllte mich an. Das tun sie immer, was vielleicht daran liegt, daß nur ihre Körper hier sind, sie selbst aber noch im Morgenland, und diese gewaltige Entfernung gilt es zu überbrücken.
    |162| »Lekka, lekka, lekka«, brüllte er mir ins Gesicht, während er eine Tüte mit Apfelsinen aus seinem zerfressenen Halbhandschuh, »kriegst du schenkt«, in meine Hand gleiten ließ, auch das machten sie immer so. Als wäre das Verkaufen ein Vorspiel »lekka, lekka«, und dann zerstörten sie es mit ihrem Gebrüll, oder das Gebrüll war ein Anfeuern, ein Nachheizen ihres inneren Ofens.
    Ich halte mich bei Detailbeschreibungen auf. Aber nicht etwa, weil ich nicht wüßte, wie es weitergeht, sondern weil ich nicht so schnell die nächste Seite erreichen will.
    Ich stand noch ein bißchen mit meinen langsam gefrierenden Apfelsinen auf der Straße herum, es war Sonnabend, der Tag vor dem

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