Vom Liebesleben der Stechpalme: Roman (German Edition)
schnipste mit den Fingern. »Rechnung bitte!«
»Was ist
los? Ich dachte, dass wir den ganzen Nachmittag zusammen verbringen.«
»Wollte
ich ja auch, aber jetzt fällt mir ein, dass ich gleich los muss.«
Die Kellnerin
trug würdevoll ein goldenes Tablett vor sich her, ganz so, als würde sie uns eine
Auszeichnung verleihen wollen.
Stattdessen
präsentierte sie uns die Rechnung. In aller Gründlichkeit überprüfte Jan den Betrag
und legte einige Münzen auf das Tablett. Dann passierte alles sehr schnell. Mein
Liebhaber drückte mir zum Abschied einen Kuss auf die Wange, deutete auf meine Omega,
die sehr vornehm an meinem Handgelenk schimmerte, und empfahl mir eindringlich,
die Bedienungsanleitung genau zu lesen. Sorgfältig knöpfte er sein Jackett zu und
verschwand.
Alleingelassen
nippte ich an meinem süßlichen Getränk und beobachtete das Treiben auf dem Rathausplatz.
Eine Gruppe deutscher Touristen stand um den alten Brunnen und schaute zu der beeindruckenden
Neptunstatue auf. »Jürgen mit der Spitze. So hat man ihn früher genannt!«, erklärte
der Reiseleiter. Neptun sah grimmig auf die dünnen Wasserstrahlen, die in kläglich
kleinen Bögen unter seinen Füßen hervorspritzten. Wahrscheinlich war er es leid,
seit 300 Jahren immer nur über dieses flache Becken zu wachen, und er träumte von
einer großen kühlen Brise mitten im Ozean.
Als ich
in die Pension zurückkam, saß Kurt im Sessel am Fenster und schaute in den Garten
hinaus. »Ein glasklarer Himmel und eine wunderbare Sicht auf die Schneekoppe. Heute
früh war es ganz neblig.«
»Du warst
beim Frühstück noch etwas benommen. Hast wohl heute Nacht andere Gipfel erklommen?«
»Neid ist
der Schönheit abträglich, Valeska. Davon bekommt man tiefe senkrechte Stirnfalten.«
»Die verdanke
ich meinem Kontoauszug, den ich stundenlang mit gerunzelter Stirn angeschaut habe.«
»Du bist
zu sehr aufs Geld fixiert. Entspann dich.«
»Nichts
lieber als das. Meinen Vermieter in Berlin stört meine Gelassenheit aber.«
»Ich kann
dir punktuell aushelfen, wenn ich die Miete von meinem Untermieter bekomme.«
»Mein Problem
ist mehr chronischer Natur. Aber ich bin dabei, es endgültig zu lösen.«
»Oh, gut
zu hören.« Kurt wandte sein Gesicht zur Sonne. »Du kommst also mit deinen Geschichten
gut voran?«
»Nein, ich
meine etwas anderes: Geschäfte. Mit Liebesgeschichten trete ich auf der Stelle.
Ehrlich gesagt, ich habe mir mehr erhofft. Polen sind keine so großen Romantiker,
wie ich dachte.«
»Höre ich
da Verbitterung heraus?«, fragte Kurt erstaunt.
»Wie kommst
du darauf, dass ich enttäuscht sein soll?«, empörte ich mich. »Ich bin doch glücklich
verliebt.«
»Das freut
mich. Ich auch. In eine romantische Frau. Alix.«
Diesmal
war ich klug genug, um nicht gleich loszuprusten: Alix, die Blondine, die das Wort
›Romantik‹ bestenfalls aus der Unterwäschewerbung kannte.
Milde sagte
ich: »Hätte ich nicht gedacht. Sie kann mir bestimmt viele zu Tränen rührende Geschichten
erzählen. Kann ich sie mal treffen?«
»Sie ist
leider nach England gereist, um ein Hochzeitsgeschenk für ihren Bruder zu ersteigern.
Irgendein altes Gemälde. In polnischen Adelsfamilien ist das so üblich.«
»Adel? Du
hast erzählt, dass Alix ein Schönheitsinstitut betreibt. Von Adel war keine Rede.«
»Doch, doch.
Sie stammt aus einer alten Adelsfamilie. Ihr Bruder Nicolai Robotka, der jüngste
Spross der Familie, wird in zwei Wochen eine Gräfin heiraten. Zum Glück ist das
keine arrangierte Hochzeit, sondern eine Liebesheirat.«
»Das kommt
mir wie gerufen. Was hätte ich nur ohne dich gemacht?«
»Ja, ich
weiß, ich weiß.« Er zeigte mir einige dicht beschriebene Blätter. »Also, wenn ich
dir helfen kann, hier bitte, eine Geschichte aus dem Familienarchiv der Robotkas.«
› Die unglückliche
Prinzessin. Eine Liebesgeschichte aus dem XIX. Jahrhundert.
Es geschah
im Jahre 1820. Der junge Prinz Wilhelm kam nach Schlesien zur Jagd. Damals rühmten
sich die Wälder einer großen Anzahl Hirsche, Wildschweine und Füchse, die in jenem
Jahr eine besonders schöne Pelzfarbe hatten. Als ob sie wüssten, dass der preußische
Prinz kommt. Auch die Bauern aus den umliegenden Dörfern waren Feuer und Flamme.
Zahlreich meldeten sie sich zum Dienst als Helfer bei der Treibjagd. Die mündlichen
Überlieferungen berichten, dass sich die Anzahl der Jagdteilnehmer sogar im Laufe
des Tages vergrößerte. Als man pünktlich um vier Minuten vor Sonnenaufgang zum
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