Vom Vergnugen eine altere Frau zu sein
hatte unter einem extrem konservativen, sterilen, weltfremden Familienleben und einer sehr dominanten und strengen Mutter gelitten. Ihr Leben war ein enges, graues Gefängnis, es war wie der Hinterhof, den sie von ihrem Kinderzimmer sehen konnte â umgeben von hohen, kahlen Mauern, die ein winziges Stück Himmel freigaben. Schon als Teenager träumte sie davon, eines Tages hinauszugehen und die Welt zu sehen, doch ihre Mutter meinte: »Träume erfüllen zu wollen ist unbescheiden â so was gehört sich nicht.« »Das sitzt verdammt tief«, sagt die inzwischen Vierundsechzigjährige im Film. Sex hat in ihrer Jugend eine wichtige Rolle gespielt, er gab ihr »eine Ahnung eines eigenen Lebens«. Den Wunsch, sexuell zu dominieren, hatte sie schon lange, er sei eigentlich immer schon da gewesen, erzählt sie. »Aber ich habe mich so viele Jahre nicht getraut, es auszuleben.« Fast fünfundzwanzig Jahre war sie verheiratet, wenige Tage vor der Silberhochzeit reichte sie die Scheidung ein. Erst jetzt traute sie sich, ihrem Leben diese Wendung zu geben. Sie hat immer noch ein sehr gutes, vertrauensvolles Verhältnis zu ihrer Familie, ihre Kinder waren sogar bereit, mit ihr im Film aufzutreten.
Die dritte Frau, Paula, ist neunundvierzig und führt ein Bordell. Schon seit ihrer Kindheit in der DDR ist sie »im Geschäft«. Sie ist reingerutscht, sagt sie, und hat sich auf diese Weise ein paar Westmark verdient. Auch sie hatte einige psychische Narben. In der DDR litt sie unter den beschränkten Reisemöglichkeiten. Als sie versuchte, im Kofferraum eines Freundes in den Westen zu fliehen, wurde sie entdeckt und landete im Gefängnis. »Es hat mich insgesamt neuneinhalb Jahre gekostet«, erklärt sie. Sie verbringt viel Zeit damit, am benachbarten Flughafen die startenden und landende Flugzeuge zu beobachten, und träumt davon, eines Tages selbst ins Blaue hinauszufliegen.
Der Film zeigt, dass in allen drei Fällen die Prostitution eine bestimmte Lebensphase darstellt. Christa heiratete schlieÃlich einen Mann, den sie einige Monate zuvor im Internet kennengelernt hatte. Sie war gerade dabei, ihre Aktivitäten auslaufen zu lassen. Karolina schloss ihr Studio und wollte »etwas völlig anderes« machen â tätowieren. Paula, die ein zweites Bordell eröffnet hatte, sparte darauf, sich ihren gröÃten Traum zu erfüllen. Sie rechnete aus, dass sie in etwa anderthalb Jahren genug Geld zusammenhaben würde, um den Rest ihres Lebens irgendwo ganz anders verbringen zu können, an einem schönen, exotischen Ort â in Thailand, Bali oder sonstwo.
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AUF DER SUCHE
Sissis Café lief ausgezeichnet, wie ich erleichtert feststellte. Sie hatte eine Menge Arbeit hineingesteckt, gerade die Organisation kostete mehr Kraft, als erwartet. Der Garten hinter der alten Werkstatt sah sehr hübsch aus, sie vermietete ihn für private Veranstaltungen. Bei Regen konnten die Gäste ins Café ausweichen. Freunde ihres Sohns und andere, die Jacek eingeführt hatte, gaben kleine Konzerte, und sie überlegten, ob sie regelmäÃig Konzertabende veranstalten wollten. Sissi kümmerte sich um die nötige Erlaubnis. Ich wollte mit ihr sprechen, aber sie hatte kaum Zeit. Wenn ich sie traf, drängte ich sie, endlich jemanden einzustellen, der sie entlasten könnte. Doch sie zögerte noch, sie wollte ganz sicher sein, dass das Café genug abwerfen würde, um einen weiteren Mitarbeiter zu bezahlen.
Sie sah blendend aus. Ihr Plan schien aufzugehen, denn sie hatte kaum mehr Zeit, über ihre Ehekatastrophe nachzudenken. Ihr Erfolg beim Aufbau des Geschäfts gab ihr neues Selbstvertrauen. Sie arbeitete hart und war mit sich selbst im Reinen.
Als ich eines Tages im Café vorbeischaute, war sie ausgesprochen gut gelaunt, sie strahlte beinahe.
»Hey Sissi, du siehst ja toll aus!«, rief ich. »Warst du gerade bei deiner Kosmetikerin?«
»Was viel Besseres«, antwortete sie. Sie sprang auf und bediente einige Kunden, die gerade hereingekommen waren. Dann machte sie sich einen Kaffee und setzte sich zu mir. »Du wirst es nicht glauben«, flüsterte sie, »ich habe einen neuen Mann gefunden â¦!«
»Fantastisch! Erzähl â¦Â«
»Du kennst ihn nicht. Er wohnt in München. Er ist Architekt, offenbar ein sehr guter, er ist für ein paar Monate hier, um einen ultramodernen Schulkomplex zu planen.
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