Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns
Lehrerseminar im Haus. Die machen heute einen Ausflug. Aber oben an der Kirche gibt es noch einen Gasthof. Da ist eh nie was los. Die beiden Alten freuen sich über jeden Gast.“
Sagt’s, dreht sich um und verschwindet in der Küche.
Martin und ich schauen uns an. Wir beide haben das Gefühl, dass der Typ uns abweist. Zwei verstaubte und verschwitzte Wanderer für eine Nacht scheinen ihm zu viel Aufwand zu sein. Das gibt’s doch nicht. Ich bin wütend. Am liebsten würde ich eine Tischdecke samt Vase herunterziehen oder die Erdnüsse in dem Gefäß auf der Theke im Raum verteilen. Ich geb’s ja zu, das sind primitive Rachegelüste, aber irgendwie fühle ich mich gedemütigt. Einen Wanderer weist man nicht ab, das ist Ehrensache.
Wir gehen hinauf zum Huckerwirt, dessen Gasthof direkt neben der Wallfahrtskirche Herrgöttle steht. Vor der Kirchenmauer befindet sich ein aufwendiges Epitaph. Fast in Lebensgröße hat hier ein Künstler die Kreuzigungsszene nachgestellt. Die aus Stein gemeißelten Figuren wirken lebensecht. Unterm Kreuz steht in bunten Gewändern Maria Magdalena und daneben einer der Jünger Jesu. Im Vordergrund, auf einem Schimmel, ein römischer Soldat, der dem Gekreuzigten seinen hämischen Gruß entbietet. An der Kirchenmauer dahinter setzt sich in einem Bild die angedeutete Felsenlandschaft fort, über die sich ein geisterhafter Himmel wölbt, der die Leidensszene dramatisch unterstreicht.
„Du liebes Herrgöttle“, entfährt es mir, wenn es für Kitsch und Kunst einen Preis gäbe, dann hätten wir hier einen Kandidaten für den ersten Platz.
Wir sind auf dem Jakobsweg – man muss die Pilger locken! Mehr fällt mir dazu nicht ein.
Der Wirt hat zwei schöne Zimmer für uns, und als er von dem Verhalten seines Kollegen dort unten hört, wird er richtig giftig.
„Das ist nicht das erste Mal. Neulich hat er Radfahrer abgewiesen. Die kamen dann zu mir, und ich weiß, dass dort unten nicht viel los war. Mit dem ist nicht gut Kirschen essen. Das ist ein Einzelgänger!“
Donnerwetter, dann liegen wir mit unserer Einschätzung doch wohl richtig. Allerdings scheinen sich die beiden auch nicht grün zu sein, und so gönnt der eine dem anderen nicht die Wurst aufs Brot.
Gegenüber der Kirche, vis-à-vis dem Kunstwerk, befindet sich ein kleiner Biergarten mit zwei Tischen. Wir sind die einzigen Gäste und werden von den beiden alten Herrschaften wunderbar bedient. Nur hin und wieder gerät die Beschaulichkeit aus den Fugen, wenn die Turmglocken zum Angriff blasen und sich mit ihrem Geläut über den Platz an der Kirche hermachen. Sie bringen alles zum Schweigen, und die Ruhe danach ist fast unheimlich.
Im Bett schalte ich noch in die „Tagesthemen“ hinein. Eine üble Nachricht jagt die nächste:
» In China ist eine Schule eingestürzt und hat Menschen unter sich begraben. Korruption und Schlamperei sind die Ursache.
» In Italien haben Skinheads einen 26-Jährigen zu Tode geprügelt. Die Behörden verschleppten den Fall über zwei Jahre. Erst auf Druck der Mutter hin wird der Prozess aufgenommen. Sie hat für Recherchen und Beweise bereits 27.000 Euro ausgegeben.
» In Tibet sind Frauen von den chinesischen Besatzern zwangssterilisiert worden.
Angewidert mache ich den Fernseher aus. Ich kann gut ohne solche Nachrichten leben und habe sie in den letzten Wochen nicht vermisst. Ich stelle aber auch fest, dass mich das heute besonders aufregt, wohl auch, weil ich zu Hause bei der ständigen Berieselung mit schlechten Nachrichten nur noch emotional reagiere, wenn sie besonders schlimm sind.
Was muss man eigentlich wissen und was nicht? Über diesen Gedanken schlafe ich ein.
D EUTSCHLAND WIRD SICH
IMMER ÄHNLICHER
DIENSTAG, 3. JUNI
BIBERBACH – OGGENHOF (WESTL. AUGSBURG), 31 KM
Heute ist es fünf Wochen her, dass wir los sind. Das Ende ist in Sicht, und ich wünsche mir, dass der Zauber nicht bricht. Ich will ihn bewahren, er ist so kostbar. So selten ist einem Glück beschieden, diese berauschenden Momente, in denen das Leben das ganze Universum ausfüllt. Auf dieser Wanderung hat es mich mit einer Wucht getroffen, wie es nur die Liebe kann, wenn sie einem den Kopf verdreht. Fliegen möchte ich, noch einmal fliegen, dass meine Seele all das aufnimmt, was schön an dieser Welt ist. Mal seh’n, ob das Glück, dieser seltene Geselle, noch einmal meinen Weg kreuzt.
Unser Frühstück nehmen wir in einem kleinen Raum, ausgelegt mit einem Perserteppich, direkt neben der Küche ein,
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