Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns
Bach-Invention. Perfekte Technik und gutes Timing zeichnen sein Spiel aus, aber es lebt nicht, hat keine Substanz und Dynamik. Ein kleines Mädchen, vielleicht acht Jahre, ist die Nächste und spielt sanft und zart Schumanns Träumerei. Sie steht mehr, als dass sie sitzt, um die Pedale bedienen zu können. Anmutig schaut es aus. Die Musik schwebt durch den Raum. Aus den hinteren Reihen drängen einige nach vorn, manche stellen sich auf die Zehenspitzen, am Ende ist es so still wie in einer Kirche. Der letzte Ton verhallt, und erst als auch der leiseste Nachklang erloschen ist, brandet Beifall auf. Sie lächelt, streicht sich mit einer schnellen, entzückenden Bewegung das Haar aus der Stirn und hüpft hinüber zu den Stuhlreihen, in die Arme ihres Vaters.
Die städtische Musikschule hat geladen und lässt ihre Schüler vorspielen. Eltern und Verwandte fiebern mit ihren Kindern und registrieren wie Seismographen jeden Beifall. Manche Gesichter strahlen stolz, in anderen steht die Enttäuschung geschrieben.
Wieder auf der Straße nehme ich eine Treppe den Hang hinauf zur Heilig-Kreuz-Kirche. Ihr Inneres wird erdrückt von dunklen Altären, dunklem Gestühl und einem ebenso dunkel wirkenden, von Engeln besetzten Himmel im Gewölbe des Altarraumes. Dort steht ein schwarzer Flügel mit einer Pedalklaviatur, so dass man auf ihm wie auf einer Orgel spielen kann. Heute Abend wird ein Konzert gegeben. Mal sehen, vielleicht ist das was für Martin und mich.
Ein leichter Regen treibt mich zurück ins Hotel. In meinem Zimmer ist es düster und kühl. Ich lege mich ins Bett, zappe mich durch die Fernsehprogramme, schalte den Apparat wieder ab und starre an die Decke. Kopfschmerzen machen mir zu schaffen, das erste Mal auf diese Art während der Wanderung. Ich könnte meine Sachen packen und loslaufen, die Stadt gibt mir nichts mehr.
Ist es das bevorstehende Ende der Wanderung, welches mir zu schaffen macht, das schlechte Wetter oder dieses Gefühl von Verlorenheit, welches die unselige Melange aus Unzufriedenheit und Nichtsmit-sich-anfangen-Können erzeugt? Ich kenne diese Stimmung aus meinem Alltag, die immer mit Kopfschmerzen verbunden ist und die ich hasse, weil sie mich so unzugänglich macht. Fünfeinhalb Wochen war ich davon befreit, jetzt hat mich die Schwere, die ein Teil meiner Persönlichkeit ist, doch wieder eingeholt.
Ich muss jetzt raus aus diesem dunklen Loch und mich ablenken. Klopfe bei Martin, der fröhlich auf seinem Bett sitzt und Rätsel löst.
„Martin, lass uns in die Stadt gehen, vielleicht ein Bier trinken und in einem Trekkingladen ein paar Infos über die letzte Etappe einholen. Am frühen Abend gibt es übrigens ein Konzert in der Heilig-Kreuz-Kirche auf einem Pedalklavier. Da könnten wir ja hingehen, und anschließend ziehen wir uns irgendwo eine Pizza rein.“
Mein Wanderbruder findet das alles hervorragend, und wir dackeln los. In einem kleinen Karten- und Wanderbuchladen berät man uns derartig schlecht, dass ich kurz vor einem Wutausbruch stehe.
In einem Tag könnten wir die Strecke bis Füssen schaffen, will man uns weismachen. Die Angestellte hat überhaupt keinen Plan, und die alternde Chefin ist mehr damit beschäftigt, gut rüberzukommen, als durchdachte Informationen zu geben.
Mit dem Fahrrad habe sie die Strecke schon mal in vier Stunden bewältigt. Wir seien doch stramme Burschen, da könne man das an einem Tag schaffen, tönt sie.
„Wissen Sie denn überhaupt, wie weit das ist?“, frage ich sie.
„Na, ein paar Kilometer werden es schon sein.“
„Wir wandern aber mit Gepäck und bestimmt nicht entlang der Straße! Es gibt doch den Lechhöhenweg!“
Sie hört gar nicht mehr richtig zu, zupft an ihren Klamotten und gurrt wie eine Taube in ihrem Verschlag, ist längst beim nächsten Kunden. Wir wenden uns ab und blättern noch mal in den Wanderbüchern. Da steht’s doch: Landsberg – Füssen über den Lechhöhenweg circa 100 Kilometer und entlang der Straße vielleicht 25 Kilometer weniger. Na klar, machen wir doch locker an einem Tag! So viel geballte Inkompetenz in einem Fachladen ist mir noch nie untergekommen. Aber ich reiße mich zusammen.
Das schöne Schwarzbier in der nächsten Kneipe besänftigt mich, und wir entschließen uns, ins Konzert zu gehen. Virtuos geht der Pianist zur Sache. Dennoch, für den riesigen Raum sind mir das einfach zu viele Töne. Wie Brei wabert die Musik durch das Kirchenschiff, die Töne überholen sich, und die perlenden Läufe verkommen
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