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Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns

Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns

Titel: Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Luehrs
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zur Klangmasse. Es ist eben keine Orgel, auf der gespielt wird, die diese weiten, hohen Räume braucht, um sich zu entfalten. Nur ein Lied, eine langsame, wunderschöne Melodie, mit sparsamen Akkorden unterlegt, wandert wie ein Lichtstrahl durch den dunklen Raum und findet seinen Weg in mein Herz. Dafür und für das stille Sitzen hat es sich gelohnt.
    Bald nach dem Essen ziehen wir uns zurück. Noch nie habe ich mich auf unserer Tour so auf den Aufbruch am nächsten Tag gefreut: auf den Lech, auf das Allgäu und vielleicht einen ersten Blick auf die Alpen.

D AS Z IEL VOR A UGEN
    SONNTAG, 8. JUNI
LANDSBERG AM LECH – KINSAU (LECH), 28 KM
    Wir wandern entlang des Lechs aus der Stadt hinaus in die geliebten Wälder, die sich hier an den Flussauen in üppiger Pracht entfalten. Eschen, Erlen, Buchen, Birken und Fichten bilden einen lichten Hain, durch den sich unser schmaler Wanderpfad windet. Vorüber die Langeweile und Niedergeschlagenheit, die mir gestern zu schaffen machten. Diese frühen Stunden im Wald, das Gezwitscher der Vögel, die klare Luft, diese Nähe zu einer Natur, die hier am Fluss unberührt sich selbst überlassen ist, sind Balsam für meine Seele und stimmen mich froh. Ich spüre, wie ein Schub durch mich hindurch geht, eine Gänsehaut mich überzieht und die alte Wanderfreude zurückkehrt, die ich schon seit Tagen vermisst habe.
    Wandern kann süchtig machen, doch die Abhängigkeit, die vielleicht entsteht, hat eine positive Wirkung auf Körper und Geist.
    Nun gerade bricht die Sonne durch die Wolken und durchflutet den Wald mit ihrem Licht. Das Himmelsgrau hat sich verzogen, und über dem grünen Blätterdach spannt sich ein blauweißes Zelt. Es scheint ein schöner Tag zu werden.
    Über ein Plateau führt uns der Weg weiter durch ein stilles, in sonntäglicher Ruhe dahindämmerndes Dorf, durch grüne Kornfelder und schließlich über einen Steig wieder hinunter in den Auenwald. Vorbei an munter plätschernden Bächen, kleinen Teichen, die wie grüne Smaragde am Waldesgrund liegen, über verwunschene Plätze – kleine Lichtungen –, die so abgeschieden sind, dass man nicht glauben mag, dass sie ein Teil unserer Welt sind. Dann wandern wir wieder hoch oben auf einem Pfad am Uferhang und schauen auf den Lech, auf sein breites Flussbett, welches durch Aufstauungen in einigen Abschnitten die Ausmaße eines Sees angenommen hat. Wir machen immer wieder kleine Pausen, gönnen uns mehr Ruhe als an den Tagen zuvor.
    Mit heiterem Gemüt schreiten wir durch den Tag, nun wieder durch eine Welt, die uns zu Füßen liegt, sich uns entgegenreckt und unsere Herzen erreicht. Wir denken nicht an gestern und an morgen, nicht an den Abend, nicht mal an die nächste Stunde. Unsere Welt hat sich wieder mal gelöst aus dem unablässigen Strom der Zeit und trägt uns weit fort, dorthin, wo die Gegenwart keine Zukunft und keine Vergangenheit kennt, wo sie unendlich zu verweilen scheint.
    Am späten Nachmittag erreichen wir den Flecken Epfach. Mitten im Ort befindet sich ein Gasthaus, und wir freuen uns auf eine Suppe und ein frühes Bier. Aber wir haben die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Der nämlich sitzt abfahrbereit mit seiner Frau im Auto, kurbelt die Scheibe runter und ruft:
    „Wir haben geschlossen, Männer, tut mir leid. Wir wollen zu einem Fest in der Nähe. Normalerweise haben wir geöffnet, aber heute ist eine Ausnahme.“
    Sie flüchten doch vor uns, die Bayern, halten uns für streunende Fischköppe, die sich an einem Bier und einer schmalen Suppe festhalten. So viele Zufälle gibt’s doch gar nicht!
    Auf dem Dorfplatz vor dem Gasthof steht ein Baum, an dessen Stamm wir uns niederlassen. Immerhin haben wir eine Rückenlehne, ein Stück Rasen und Schatten, das muss reichen. Die Powerriegel sind so hart wie altes Schwarzbrot, und das Wasser in unseren Schläuchen ist genauso warm wie die Luft, die wir atmen. Unsere gute Laune kann das nicht schmälern. Eine leichte Böe und ein paar Spatzen stieben über den Platz, ansonsten herrscht Ruhe. Der Flecken liegt in einer Senke, in der sich die Wärme staut. Wir werden müde, schließen die Augen und gleiten hinüber in einen sanften Schlaf. Erst als ein Auto hupt, wohl um uns einen Streich zu spielen, werden wir unsanft geweckt. Eine halbe Stunde ist vergangen, wir müssen weiter, wollen bis Kinsau – noch vier bis fünf Kilometer.
    Die Landstraße führt in einem Bogen aus dem Dorf hinaus, hinauf zum westlichen hohen Ufer des Lech. In einer Baumreihe vor uns

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