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Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns

Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns

Titel: Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Luehrs
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klafft eine Lücke, und über den Kuppen der bewaldeten Hügel erheben sich, fern am Horizont, in der diesigen Luft nur als blaue Silhouette zu erkennen: die Alpen. Mich packt eine wilde Freude.
    „Martin, Martin, siehst du das! Wir haben es geschafft! Ich sehe die Alpen, schau doch mal!“
    „Ja, ich sehe sie auch.“
    Wie herrlich ist dieser Anblick: das blaue Band, die Berge, das Ziel – ich bin angekommen! Nach so vielen Tagen, einer halben Unendlichkeit, nach Tagen der Niedergeschlagenheit und zermürbender Anstrengung, nach Tagen voller Freude und Beschaulichkeit, nach Tagen der Sehnsucht und Tagen, die wir in unserer eigenen, verzauberten Welt verbrachten, liegt das Ende nun vor uns, die Erfüllung dieser Traumreise.
    Tränen rollen mir über die Wangen, während ich vor Glück lächele und das Schluchzen unterdrücke, weil mein Wanderbruder offensichtlich dieses Maß an Freude nicht empfindet und ich mich deswegen nicht gehen lassen mag. Am liebsten wäre ich ihm um den Hals gefallen und hätte alles mit ihm geteilt.
    Das Glücksgefühl, das jede Faser meines Körpers und jeden Winkel meiner Seele durchströmt, ist von unbändiger Kraft und gipfelt in einer derart überschäumenden Euphorie, dass ich nicht weiß, wohin mit all der Energie, die alles in mir vereint: Kraft, Leben, Licht und Freude.
    Dieser Moment bildet die Krönung dieser Wanderung. Er ist verbunden mit einer Lebensfreude, die alle Fesseln sprengt. Aufgewühlt greife ich zum Handy. Ich brauche jemanden, dem ich mich mitteilen kann, ich brauche jetzt meine Frau. Ihr schildere ich meine Empfindungen mit einer Begeisterung und Innigkeit, dass ich spüre, wie ich sie erreiche und sich eine ganz tiefe Verbindung zwischen uns aufbaut, voller Zärtlichkeit und süßer Sehnsucht.
    Wir nehmen den Weg wieder auf. Zutiefst zufrieden wandere ich dem Ziel entgegen, jener blauen Bergkette, die sich weit vor uns im Dunst ausbreitet und jeden Tag ein Stückchen näherrücken wird, bis wir an ihrem Fuß ankommen werden.
    Das berauschende Gefühl ebbt ab. Ich hätte es in dieser Intensität auch nicht länger aushalten können, es hätte mich zerrissen, aber es klingt nach wie Musik und verliert sich nach und nach in den Weiten der lieblichen Landschaft vor uns.
    Just in dem Moment, wo wir in Kinsau einlaufen, bricht ein heftiges Gewitter los. Es war schon unterwegs zunehmend schwüler geworden, und man konnte ahnen, dass sich die angespannte Atmosphäre irgendwann entladen wird. Gerade noch rechtzeitig landen wir in einer Kneipe. Ein großer Fernseher steht in der Ecke und überträgt das Fußballspiel Österreich gegen Kroatien. Die Europameisterschaften haben begonnen. Das passt – hier können wir uns heute Abend das erste Spiel unserer Nationalmannschaft gegen Polen anschauen.
    Ein paar Burschen hocken an der Theke, trinken Bier und rauchen. Wir werden freundlich empfangen, erfahren aber gleich, dass wir hier nicht übernachten können. Doch der Wirt kümmert sich, telefoniert und organisiert im Handumdrehen eine Ferienwohnung auf einem Bauernhof, nur 300 Meter entfernt von hier.
    Wir lassen uns nieder, trinken ein Bier und warten das Unwetter ab. Nur langsam sickert es in die Köpfe der Einheimischen, dass wir Weitwanderer sind und bereits seit 40 Tagen durch Deutschland laufen. Man witzelt ein wenig, aber wir spüren doch die Anerkennung. Von dem, was die Männer untereinander bereden, verstehe ich fast nichts, bayerischer geht’s nimmer.
    In der Halbzeit packen wir es und marschieren hinüber zu unserer Unterkunft.
    Hinter dem Wohntrakt der Bauersleute, am Ende ihres Flures, liegt die großzügige Ferienwohnung. Eine Tür trennt sie vom Privatbereich. Zwei geräumige Schlafzimmer, eine große Küche und ein Bad nennen wir unser eigen, und das für nur 25 Euro pro Person – inklusive Frühstück.
    Erst auf dem Weg zurück zur Kneipe fällt mir die Schönheit der Landschaft und des Dorfes auf. Malerisch liegt es unter uns, die Häuser gruppiert um eine Kirche. Es hat aufgehört zu regnen und ist viel heller geworden. Jenseits des Dorfes spannen sich Wiesen bis an den bewaldeten Ufersaum des Lechs, der sich glatt wie ein See vor dem hinter ihm aufragenden Steilufer erstreckt. Seine grüne Oberfläche färbt sich silbern an jenen Stellen, wo eine Böe das Wasser kräuselt und das Licht sich bricht.
    Als wir das Lokal betreten, wird gerade unsere Nationalhymne gespielt. Es ist voller geworden, alles junge Leute, die Stimmung ist gut.
    Mit dem Essen

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