Von Alkohol bis Zucker - 12 Substanzen die die Welt veränderten
Penicillin für jeden, der je davon gehört hat, als Inbegriff einer Zufallsentdeckung gilt – es ist eine der großen Anekdoten des 20. Jahrhunderts und ihr Protagonist sieht dabei nicht gut aus. Die Geschichte ist so populär, dass sie es in zahllose Bearbeitungen geschafft hat. Ich erinnere mich an ein Jugendbuch meiner Kindheit: Dort wurde berichtet, Fleming habe die berühmten Petrischalen mit den Bakterienkulturen am offenen Fenster(!) stehen lassen, worauf sich flugs eine Pilzspore von Penicillium notatum darauf niedergelassen habe. Andere Quellen behaupten, Fleming habe die Kulturen in der Spüle vergessen, die heute kanonische Form der Geschichte spricht davon, dass Fleming eine Agarplatte mit Bakterien beimpft hat und danach in Urlaub gefahren ist. Als er am 28. September 1928 zurückkehrte, stellte er fest, dass sich auf der Bakterienkultur ein Schimmelrasen gebildet hatte. Im Bereich des Pilzes waren die darunterliegenden Bakterien abgestorben: Fleming hat das erkannt und nicht bei Ansichtigwerden des Schimmelflecks leise geflucht und die Schale ausgewaschen – wie wir das tun würden, wenn wir Schimmel sähen …
Aus den Erzählungen lässt sich vielleicht doch der Gesamteindruck destillieren, dass die Zustände in Flemings Labor im St. Marys Hospital in London ein wenig chaotisch waren. Auch die harmloseste Variante mit dem Urlaub lässt sich hinterfragen: Bakterien wachsen, wie wir alle aus leidvoller Erfahrung wissen, so schnell, dass sie keinen ganzen Urlaub brauchen, um sich zu voller Pracht zu entwickeln – die Anlage der Kulturen vor seiner Abreise folgte also keinem Plan (»… wenn ich am 28. zurückkomme, müssten sie so weit sein …«), sondern er hatte diese Kulturen angelegt und schlicht vergessen. Das kann vorkommen. Fleming hat in jenen Jahren wahrscheinlich Hunderte solcher Kulturen angelegt; die Erforschung gefährlicher Eitererreger war Forschungsschwerpunkt am St. Marys. Jemand anderer hätte nach der Entdeckung vielleicht eine Geschichte konstruiert (»… im Sommer ’28 kam ich auf die Idee, es einmal mit Pilzen zu versuchen …«), aber so jemand war Alexander Fleming nicht, seine Bescheidenheit, sein nüchterner Wirklichkeitssinn standen jeder Eigenmythologisierung entgegen.
Ja, verehrte Leserin, lieber Leser, die größte Entdeckung der Medizingeschichte ist erfolgt, weil Fleming eine Bakterienkultur verschusselt hat. Und hätte er das nicht getan, würden heute nicht alle von uns putzmunter durchs Leben spazieren. Weil den einen oder die andere irgendeine der allseits beliebten Infektionskrankheiten hinweggerafft hätte. Oder eine Infektion ohne Krankheit. Bezeichnenderweise war der erste Patient, der mit Penicillin behandelt wurde, ein Londoner Polizist, der sich beim Rasieren geschnitten und eine Blutvergiftung zugezogen hatte. Nach fünf Tagen war das Fieber weg. Und das Penicillin aufgebraucht. Der Mann starb einen Monat später. Das war 1941, dreizehn Jahre nach Flemings Entdeckung, die zunächst kein Interesse geweckt hatte. Erst der Zweite Weltkrieg änderte alles: Die in Deutschland entwickelten Sulfonamide standen nicht mehr ohne Weiteres zur Verfügung, zur Wundversorgung brauchte man aber ein wirksames Mittel. 1938 untersuchten der australische Pathologe Howard Florey und der aus Deutschland emigrierte Chemiker Ernst Chain systematisch alle Substanzen, die sich irgendwann gegen Bakterien als wirksam erwiesen hatten. Dabei stießen sie auch auf Lysozym , eine Entdeckung Flemings aus dem Jahr 1921 – er hatte diesen Wirkstoff im Nasenschleim und im Speichel gefunden und festgestellt, dass Lysozym massiv gegen Bakterien wirksam war. Allerdings nur gegen harmlose, gegen pathogene Keime versagte es völlig.
Penicillin war da schon ein anderes Kaliber: Es wirkte gegen pathogene Keime, ließ die weißen Blutkörperchen, die Hauptabwehr des Körpers gegen Infektionen, aber in Ruhe, was Fleming schon in seiner Veröffentlichung beschrieben hatte. Es war ja nicht so, dass man in den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts nichts gegen Bakterien gehabt hätte: Phenol , damals noch »Karbolsäure« genannt, war ein wirksames bakterizides Mittel; jedes Krankenhaus stank geradezu danach, weil es reichlich zur Desinfektion verwendet wurde. Leider verbot sich seine Anwendung im Körper des Patienten: Phenol ist sehr giftig.
Fleming hatte die bakterientötende Substanz, die er Penicillin nannte, nicht isoliert, das heißt, aus der Pilzkultur nicht als reinen Stoff gewonnen.
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