Von Alkohol bis Zucker - 12 Substanzen die die Welt veränderten
Viehhaltung und Düngerproduktion immer weniger Platz. Das ein Jahrtausend gültige System der Dreifelderwirtschaft war an seine Grenzen gestoßen. Besonders gut funktioniert hatte es ohnehin nicht. In Abhandlungen über das frühe Mittelalter findet sich immer wieder dieselbe, höchst interessante Zahl: das Aussaat-ErnteVerhältnis. Das lag bei 1:3 bis 1:4, soll heißen: Für jeden Zentner ausgesätes Korn wurden drei bis vier Zentner geerntet. Zum Vergleich: Heute liegt das Verhältnis beim Winterweizen zum Beispiel bei 1:40! Auf die damalige Zahlenangabe folgt meistens eine gewisse Ratlosigkeit der Historiker, wie bei einem solchen, geradezu lächerlichen Verhältnis die Bevölkerung überhaupt ernährt werden konnte, weil jede Missernte sofort zum Aufbrauchen des Saatgutes für das nächste Jahr und zu einer Hungersnot führte. Diese mit unschöner Regelmäßigkeit auftretenden Hungersnöte finden sich dann auch in den Chroniken. Die Ineffizienz der mittelalterlichen Landwirtschaft fällt besonders auf, da in der Antike das Aussaat- Ernte-Verhältnis bei 1:8 lag; in der Völkerwanderung ist also enormes Wissen über Landbau vergessen worden.
Die Dreifelderwirtschaft brachte dann eine Verbesserung der Situation. Ein Drittel der Anbaufläche lag brach, eins wurde mit Wintergetreide, eines mit Sommergetreide bepflanzt. Schon im frühen Mittelalter beobachtet man eine »Vergetreidung« des Ackerbaus. Warum? Die schiere Notwendigkeit, die Bevölkerung zu ernähren, erzwang gleichsam auf Teufel komm raus den Anbau von Getreide auf jedem Fleckchen, das nur irgendwie dazu geeignet war. Das geht so lange gut, wie das Brachland wirklich Vollbrache ist – dabei »erholt« sich der brachliegende Boden jedoch trotzdem nicht, wie man immer wieder lesen kann, sondern hier gilt das Gesetz vom Erhalt der Masse: Jedes Gramm Stickstoff, das der Erde in Form von Getreideprotein entzogen wurde, muss in Form von Dünger wieder zugeführt werden. Sonst sind die Stickstoffspeicher des Bodens in wenigen Jahren erschöpft. Was war aber nun Dünger? Tierische und menschliche Exkremente. Die tierischen können nun aber nicht von den Kühen stammen, die etwa auf dem Brachland sprießendes Gras abweiden (das wäre ein Stickstoff-Nullsummenspiel), sondern müssen von Extraweideflächen kommen. Und die muss man erst einmal haben. Durch ständige Ausweitung der Anbaufläche (innere Kolonisation) gelang das ein Jahrtausend lang auch bloß schlecht und recht. Wobei die großen Bevölkerungsverluste durch die Seuchen, besonders die Pest in der Mitte des 14. Jahrhunderts, Druck von der Landwirtschaft genommen haben … Nachdem aber die Verluste des Dreißigjährigen Krieges aufgeholt waren und die Seuchen zurückgingen, stieg dieser Druck im 18. Jahrhundert spürbar an. Der Mangel an Flächen für das Vieh führte zu einer verminderten Düngung und zum Rückgang der Ernten. Man konnte zwar auf sauren Böden durch Ausbringung von Mergel (ein Kalk-Ton-Gemisch) eine wundersame Ertragssteigerung erreichen, weil durch den basischen Kalk der pH-Wert des Bodens angehoben, die Erde also basischer wurde – das hat die Bodenbakterien, die den organischen Dünger für die Pflanze verfügbar machen, sehr gefreut, da sie sich im Sauren unwohl fühlen. Die Erträge stiegen. Weil aber sonst nichts Düngermäßiges eingebracht wurde, war das ein Strohfeuer: Nach Auf brauchen der letzten Reserven gab der Boden nichts mehr her – er war im Wortsinn »ausgemergelt«. Bezeichnenderweise finden sich im Englischen und in den romanischen Sprachen, wenn man nach einer Übersetzung für »ausmergeln« sucht, nur Vokabeln, die sich alle vom lateinischen emaciare, wörtlich »mager werden lassen«, ableiten, also in dem Sinn, wie man das Wort heute auch im Deutschen verwendet (»ausgemergelt« erscheinen uns Personen, die schwere Entbehrungen hinter sich haben, keine Böden!). Die Methode, dem Boden mit Mergel vorübergehend aufzuhelfen, scheint also nur in Mitteleuropa so massive Praxis gewesen zu sein, dass sie in den Sprachschatz einging und übertragene Bedeutung angenommen hat.
Diesen Exkurs in die Agrargeschichte halte ich für nötig, um die Bedeutung zu verstehen, die das Konzept der mineralischen Düngung für unsere Länder hatte. 1840 erschien das Buch »Die Chemie in ihrer Anwendung auf Agrikultur und Physiologie«. Der Chemiepapst Justus von Liebig stellte darin die These auf, der sinkende Ertrag der deutschen Böden sei auf einen jahrhundertelang
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