Von Beileidsbesuchen bitten wir abzusehen
Anstalten machten, sich zu verabschieden. Höchste Zeit für Max Nedomanski. Wahrscheinlich war er eingeschlafen. Oder hatte er im letzten Augenblick kalte Füße bekommen? Vielleicht wartete er nur, um ihn, Borkenhagen, zu überreden, vor die Gäste hinzutreten und den sehr verehrten Damen und Herren seinen Irrtum einzugestehen. Nur ein schwerer Herzanfall, es hatte aber ganz den Anschein… Ja… Sein Herz hat wieder angefangen zu schlagen. Es tut mir sehr leid, daß ich Sie alle durch eine falsche Diagnose… Ja, so oder so ähnlich würde es ablaufen. Für weitere 500 Mark war er auch dazu bereit.
Borkenhagen paßte die Sekunde ab, da ihn niemand beobachtete. Er tat so, als wollte er die Toilette aufsuchen und schlüpfte dann in den rechtwinklig abgehenden Teil des Flurs hinüber, der zu Nedomanskis Schlafzimmer führte.
Hier brannte keine Lampe, aber es war hell genug, um die schwere Bronzeklinke an der Tür auf den ersten Blick zu finden. Vom Speisezimmer her drang gedämpftes Gemurmel zu ihm herüber. Er kam sich vor wie ein Kind, das sich vor den Erwachsenen versteckt. Er spürte, wie sich Arme und Beine mit einer kribbelnden Gänsehaut überzogen. Er erinnerte sich: Es war derselbe lustvolle Schauder, der ihn immer gepackt hatte, wenn sie ihm das Märchen von dem Mann vorgelesen hatten, der ausgezogen war, das Fürchten zu lernen… Er zog die Tür auf, trat ins Zimmer und ließ sie wieder ins Schloß fallen.
Fahles Mondlicht erhellte den kleinen, quadratischen Raum. Rechter Hand füllte ein hochglanzpolierter Einbauschrank den Raum bis zur Decke; links stand Nedomanskis Bett, neben der Tür der Stuhl mit Nedomanskis Sachen. Eine Mücke surrte durch das Zimmer und suchte Borkenhagen. Er scheuchte sie mit einer hastigen Handbewegung zurück. Irgendwo zirpte eine Grille. Das Fenster zum Garten war nur angelehnt. Die Nachttischschublade stand offen. Das Bild über Nedomanskis Bett hing ein wenig schief.
Nedomanski lag auf der rechten Seite und hatte das Gesicht zur Wand gedreht. Das Bett sah ein wenig zerwühlt aus, offensichtlich war er ungeduldig geworden. Die Sache mit dem Kurzschluß hatte ja auch eine ganze Weile gedauert. Darüber mußte er eingeschlafen sein.
„Hallo, Herr Nedomanski!“ rief Borkenhagen halblaut. „Kommen Sie, es ist soweit!“
Keine Antwort.
Hoffentlich hat er keinen allzu festen Schlaf, dachte Borkenhagen. Er trat an das Bett, um Nedomanski wachzurütteln. Er packte ihn mit beiden Händen an der linken Schulter. Als er ein wenig Kraft einsetzte, klappte der Körper herum wie ein Sack, der umkippt.
Borkenhagen schrie auf.
Draußen im Garten schaltete jemand die Lampen ein, weil die Gäste gehen wollten. Lichtreflexe huschten über zwei glasige Augen.
Max Nedomanski war tot.
Das ist der letzte Satz in dem Manuskript, das mir Borkenhagen auf dem Tennisplatz gegeben hatte. Nicht schlecht, alles in allem. Es geht ein bißchen gestelzt los, aber dann bekommt es plötzlich Farbe und Atmosphäre. Das ist schon eine Geschichte, die unter die Haut geht. Die Moral von der Geschicht: spiele mit dem Tode nicht. Überschrift: TOTE LEBEN NICHT LANGE… Pustekuchen. Das ist vielleicht ein Titel für einen Krimi – aber dies wird, wenn’s überhaupt was wird, ein Tatsachenbericht. Wär ja auch eine ganz alte Masche: ein Toter, ein Haus voller gleichermaßen verdächtiger Personen – wer ist der Mörder? Großes Rätselraten, Spannung bis zur letzten Seite… Aber wer sagt denn, daß Nedomanski ermordet worden ist? Einstweilen spricht nichts dafür; er kann durchaus eines natürlichen Todes gestorben sein. So etwas soll ja gelegentlich vorkommen. Herzkrank war er ja, dazu die Erregung… Dann kann er allerdings noch im Grabe lachen, wenn die Kripo womöglich doch anfängt, unter all den Leuten, die er nicht ausstehen konnte, seinen Mörder zu suchen… Todesursache? Na, es soll schon vorgekommen sein, daß man die nicht so ganz zweifelsfrei ermitteln konnte.
Weitere Möglichkeit: Nedomanski hat Selbstmord begangen – und zwar, wenn die lieben Verwandten Pech haben, auf eine Art und Weise, die nur einen Schluß zuläßt: Mord! Keine schlechte Idee, wenn man ohnehin schwer krank ist und sich an seiner Umwelt rächen will. Die Frage ist, wie krank war Nedomanski? Immerhin: Jeder der hohen Gäste unter Mordverdacht… Wir bitten Sie, bis auf weiteres Berlin nicht zu verlassen!
Ja, und dann kann es natürlich eben doch ein waschechter Mord gewesen sein. Das allerdings würde die Gäste
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