Von dieser Liebe darf keiner wissen - wahre Geschichten
Mann.
Selbst Vögel, besorgtere Eltern könne man sich kaum denken, stießen ihre Jungen, wenn todkrank, aus dem Nest. So sei die Natur, sagt er, die Natur, von der der Mensch, fähig zur Moral, sich entfernt habe.
Also sind wir nicht verrückt?, fragt Linda.
Der Alte setzt sich neben die Frau aufs Sofa, sie legt ihren Kopf an seine Schulter und zittert vor Trauer.
Johan verkauft den Maxi Cosi.
Der Mann und die Frau stehen im Zimmer 4.22, Scheper Ziekenhuis, Boermarkeweg 60, Emmen, ihr Kind Sanne, drei Wochen alt, schläft, Arme und Beine in weiße Binden gepackt, in seiner Nase ein Schlauch.
Wenn jetzt ein Arzt käme, eine Spritze in der Hand, und sagte, er habe noch ein bisschen Gift darin.
Ja.
Ich auch.
Aber Sie werden Ihr Kind doch irgendwann nach Hause nehmen, nicht wahr?, sagt eine Pflegerin und lächelt.
Tag 34, Sanne reißt sich die Magensonde aus der Nase, ihr Gesicht blutet.
Tag 71, es ist Dienstag, 27. März, Linda und Johan M. fahren nach Groningen zur Kinderklinik des Universitair Medisch Centrum, vierter Stock.
Wir möchten, dass Sie das Leben unserer Tochter beenden!
Dann komme ich ins Gefängnis, sagt der Chefarzt.
Was können wir tun?
Vielleicht nur dies: Sie schreiben auf, was Sie möchten und weshalb, ich bringe Ihren Brief zum Staatsanwalt und erkläre ihm, ich sei unter Umständen bereit, Sanne zu erlösen, falls ich strafrechtlich dafür nicht verfolgt werde.
Sie würden das tun?
Ich würde es tun.
Sie sitzen am Tisch in der Küche, Linda, ausgebildete Lehrerin, schreibt mit großen runden Lettern, sehr geehrter Herr Staatsanwalt, unsere Tochter, geboren am 20. Januar, heißt Sanne –
Montag, 2. April, kurz nach zwölf, fahren der Mann und die Frau ins Krankenhaus, Sanne liegt stumm auf einem Kissen, langsam tragen die Eltern ihr Kind ins Auto, langsam bringen sie es nach Hause, Dordsestraat 33, und zeigen ihm die Bäckerei, das apfelgrüne Zimmer unter dem Dach, Sanne trinkt Milch aus der Flasche, Linda singt und summt, er gaat een treintje naar dromenland.
Die dunklen Augen.
Sanne bleibt drei Stunden, Tag 77.
Der Staatsanwalt richtet aus, mit gutem Gewissen könne er nicht versichern, ein strafrechtliches Verfahren zu unterlassen, falls er von aktiver Euthanasie an Neugeborenen erfahre, dennoch sei er bereit, sich mit Medizinern und Philosophen und Juristen zu treffen, um entsprechende Fragen zu bereden, am besten in Utrecht, dem Sitz der Stiftung Dilemma.
Ohne uns?, schreit Johan.
Uns hören die nicht an!
Sie legt ihre Hand auf seinen Arm.
Immer wieder holen sie das Kind nach Hause, zeigen ihm sein Zimmer, die Kleider, die es nie tragen wird, Karin leiht sich einen Maxi Cosi und stößt Sanne durch die Dordsestraat und redet mit den Menschen, die sich zum Kinderwagen bücken, was für ein hübsches Kind, wie geht es ihm überhaupt?
Erzählt keinem, sagt Dilemma, was ihr denkt.
Sanne bleibt nun jede zweite Nacht. Zieht ihr Linda die Windel zu eng, wachsen Blasen, reibt sich Sanne an steifem Tuch, platzen Blasen. Manchmal erstickt sie fast am eigenen Schleim, ihr Gesicht ist blau und gelb, dann steckt Linda einen Schlauch in Sannes Hals und saugt am anderen Ende, zieht das Kind ins Leben zurück.
Vielleicht sollte ich – nein.
Das geht nicht, sagt Johan.
Wenn Sanne stirbt, dann ohne Angst, wenn sie stirbt, dann ganz ruhig.
Beugt sich Linda über Sannes Bett, sagt sie Hurra!, hurra!, manchmal lacht das Kind und wirbelt seine Arme in Lindas Gesicht.
Und wenn jetzt das Telefon schellte, Groningen am Apparat, der Staatsanwalt habe es sich anders überlegt, wir könnten, wenn wir möchten, Sanne sofort bringen?
Johan fährt das Kind zurück ins Krankenhaus, man betäubt es und wechselt seine Binden.
In Utrecht reden sie seit Stunden, Philosophen, Juristen, Mediziner, es ist Mittwoch, 25. April, der hundertste Tag im Leben von Sanne M., und Linda schaut auf die Uhr, schaut zu Sanne, die plötzlich lacht und gurrt.
Wenn jetzt?
Sie schiebt ihr Kind nicht mehr durch die Straßen, Linda will nicht, dass jemand sieht, wie Sanne, zwar selten, plötzlich lacht und gurrt.
Unser Leben, Johan, ist ein Doppelleben.
Sanne hat Blasen auch im Mund, sie hat Hunger, kann nicht trinken, Sanne schreit und brüllt, Linda legt ihr Kind ins Bett, greift zum Staubsauger, stellt das Radio laut.
Scheiße, Scheiße, Scheiße!
Der Psychologe im Krankenhaus rät zur Gesprächstherapie.
Ich spinne doch nicht, sagt Johan.
Dilemma schickt eine E-Mail: Noch kein Entscheid in Utrecht,
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