Von Hundert auf Gluecklich - wie ich die Langsamkeit wiederentdeckte
insgesamt etwa eine Stunde. Nach dieser Zeit ist jeder gut durchtrainiert, trägt wieder seine Alltagskleider und kann weiterziehen. Wer zweimal die Woche dorthin ginge, verspricht das Konzept, sei fit genug fürs ganze Jahr.
Entsprechend klicken in den Trainingsräumen regelmäßig die Stoppuhren. Schließlich gilt es, an jedem Gerät zu prüfen, ob man das nötige Verhältnis von Zeit- und Kraftaufwand erreicht hat. Wer keine Stoppuhr besitzt, schaut pflichtbewusst auf die Uhren, die im Trainingsraum unter der Decke hängen. Es darf alles nicht zu lange dauern. Zehnmal geht der Blick zur Uhr, wenn nicht öfter. Zeitdruck ist programmiert. Jeder arbeitet gegen sich selbst und treibt seinen Körper unwillkürlich zur Eile an. Wenn mir versprochen wurde, dass mein Training nur eine halbe Stunde lang dauert, nehme ich mir dafür auch nur dreißig Minuten Zeit. Wer mit Schnelligkeit wirbt, provoziert auch Schnelligkeit.
Schon vor dem Training gerate ich unwillkürlich in diesen Stoppuhrmodus. Ich hetze zum Studio, ziehe mich eilig um, verstaue meine Kleider in einen der silbrig glänzenden Schränke in dem Umkleideraum, ziehe mir die Karteikarte aus dem Schieber, auf dem das Gewicht verzeichnet ist, das ich jeweils an den einzelnen Geräten einstellen muss, und mache mich an die Arbeit. In meinem Kopf kreisen die Fragen. Mache ich alles richtig? Bin ich auch gut in der Zeit? Nach dem Sport geht es gerade so weiter: Soll ich nicht rasch einkaufen gehen? Schließlich |144| befinden sich zwischen Studio und meiner Wohnung eine Drogerie und ein Supermarkt. Schaffe ich das noch, bevor die Kinder aus der Schule kommen?
Und weiter hetzt mich der Entspannungsstress: Kriege ich zwei Trainingseinheiten in eine Woche, in der ich drei Lesungen zugesagt habe? Wo kann ich Sport treiben, wenn ich unterwegs bin?
Nicht zuletzt treiben einen die Kosten. Schließlich zahlt man für einen Jahresvertrag in dem Studio eine Stange Geld. Das lohnt sich nur, wenn man dort regelmäßig trainiert. Schon oft habe ich mich gefragt, warum ich eigentlich Geld dafür zahlen muss, mich bewegen zu dürfen. Könnte ich nicht einfach Fahrrad fahren oder walken, im Sommer in einem See schwimmen gehen und im Winter zu Hause Gymnastik treiben?
Früher habe ich jeden Morgen meine Turnübungen gemacht. Ich bin freiwillig eine Viertelstunde früher aufgestanden und habe neben meinem Bett auf dem Boden geturnt. Das hat mich keinen Pfennig Geld gekostet. Doch mit den Jahren ist die Verantwortung gewachsen, die Zahl der Aufgaben und natürlich der Druck, sie rechtzeitig zu erledigen, haben sich sukzessive erhöht. Damit ich regelmäßig auf meine Gesundheit achte, zahlte ich jetzt viel Geld.
Im Zuge meines neuen Strebens nach mehr Lebensqualität wollte ich ausprobieren, ob das nicht auch anders ging. Meine Freundinnen, insbesondere Anna, hatten von ihren jeweiligen Yogakursen geschwärmt. Sie waren vollkommen begeistert davon und überdies überzeugt, das sei die einzig wirkungsvolle Sportart. Anna ging zu einer Art Yoga, die Bikram heißt, benannt nach ihrem Meister Bikram Choudhury. Der Mann gilt als der erfolgreichste Guru der |145| Welt, doch weniger wegen der Dehnungen und Biegungen, die er von seinen Schülern verlangt, als vielmehr wegen der Temperaturen, bei denen sie praktiziert werden. In den Räumen, in denen Bikram-Yoga stattfindet, werden prinzipiell alle Heizkörper aufgedreht. Entsprechend heiß ist es dort, bis zu vierzig Grad zählt das Thermometer. Choudhury ist der Meinung, bei solchen Temperaturen könne man den Körper besser bewegen.
Ich war skeptisch, weil ich grundsätzlich eine Aversion gegen das habe, was alle machen oder gut finden, doch gleichzeitig trieb mich die Neugier. Ich wollte zu gern herausfinden, wie man bei solch einer Hitze überhaupt Sport treiben kann. Außerdem hoffte ich, dass ich die entsprechenden Übungen irgendwann so gut beherrschte, dass ich sie auch zu Hause oder unterwegs abends allein im Hotelzimmer machen konnte – selbst wenn es dort nicht so heiß war. Also verabredeten wir uns für Montag, und ich zog abends, acht Uhr, mit Anna los.
Es war nicht das erste Mal, dass ich einen Yogakurs besuchte. Als Mücke noch gar nicht auf der Welt und Murkel gerade erst geboren war, hatte ich schon einmal das Bedürfnis nach dieser Form von körperlichem Ausgleich. Damals lebten Schrat und ich in London, das Leben dort war ungeheuer teuer, und ich musste nicht nur eine Sportart finden, die mit dem Tagesablauf eines
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