Von Natur aus kreativ
abzunehmen, dann esse ich nicht. Ich bewerte also die widersprüchlichen Wünsche und handle danach. Wir sind nicht lediglich eine wunschgetriebene Maschine, sondern in der Lage zu deliberieren, das heißt, Gründe abzuwägen. Und das ist genau die Grundlage, um hinreichend Kohärenz in unserer Lebenslage herzustellen. In diesem Zusammenhang kann auch das eine Rolle spielen, was als „philosophische Praxis“ bezeichnet wird, nämlich die Analyse von Wertungen und Lebensformen vor dem Hintergrund philosophischer Begriffe und Theorien.
Wagner: Was aber ist, wenn man nicht nur unterschiedliche Wünsche, sondern zwei Seelen in seiner Brust hat? Wo ist der Kern?
Nida-Rümelin: Um die Fragen zu beantworten, müsste ich meine philosophische Sicht etwas genauer zu erläutern. In den Feuilletondebatten scheinen sich zwei Lager gegenüberzustehen. Auf der einen Seite sind es die „Freunde der Identität“, die von ihren Gegnern meist als verspätete Descartes-Anhänger charakterisiert werden. Auf der anderen Seite sind es die Identitätsskeptiker, zum Beispiel aus der Neurowissenschaft, die meinen, so etwas wiepersonale Identität könne es schon deswegen nicht geben, weil es kein Zentrum gibt, von dem aus das Gehirn gesteuert wird. Meine eigene Position steht beiden Auffassungen entgegen. Von Identität kann man in meinen Augen nur in einem graduellen Sinne sprechen. Diese Identität ist handlungstheoretisch und ethisch verfasst, nicht metaphysisch oder ontologisch. Für mich ist Identität verknüpft mit Verantwortung: Menschen sind für das, was sie tun, auch für ihre Überzeugungen und Emotionen, in einem gewissen Grade verantwortlich. Es gibt jeweils einen Akteur, der begründen kann und muss, warum er so und nicht anders entschieden hat. Diese Fähigkeit, Gründe für Überzeugungen und Handlungen anzugeben, macht unsere jeweilige Identität aus.
Wagner: Menschen gestalten also ihr Leben und ihre Bedingungen selbst?
Nida-Rümelin: Weitgehend, allerdings in den Grenzen der Gegebenheiten, die sie nicht selbst kontrollieren können, wie genetische, kulturelle und soziale Bedingungen ihres Lebens. Es gibt einen interessanten Befund aus der Zwillingsforschung. Eineiige Zwillinge, die gemeinsam aufwachsen, sind oft unterschiedlicher als eineiige Zwillinge, die getrennt aufwachsen. Dieser empirische Befund bestätigt die von mir vertretene Identitätskonzeption. Trotz weitgehend identischer Genetik und weitgehend identischer Umweltbedingungen entwickeln sich die beiden Zwillinge offenbar auseinander, wenn sie zusammenleben, weil sie sich voneinander unterscheiden wollen. Das heißt, sie werden in engen Grenzen kreativ, sie werden zu Gestaltern ihrer eigenen Lebensform und damit auch ihrer Identität. Menschen sind verantwortliche Akteure und nicht bloße Subjekte äußerer Beeinflussung. Die Idee menschlicher Würde und menschlichen Respekts setzt voraus, dass Menschen für ihr Tun und Lassen verantwortlich gemacht werden können.
Mehr dazu finden Sie in den Büchern von Julian Nida-Rümelin, zum Beispiel in „Über menschliche Freiheit“ (Reclam 2005) sowie „Verantwortung“ (Reclam 2011).
Die Gelassenheit der Verwegenen
Warum neue Ideen Mut brauchen
Auch Wissenschaftler sind kreativ, wenn auch manchmal ganz anders, als man sich das vorstellt. Dies zeigt die Geschichte eines Professors, der mit kreativen Mitteln gegen seine Studenten im Squash gewann. Ein Akt, der Verwegenheit und Gelassenheit erfordert.
Es war ein ungleiches Spiel, das sich den nicht wenigen Zuschauern bot, die sich vor dem Squashcourt im damaligen Bavaria Squash-Center in München versammelt hatten. Ein 20-jähriger durchtrainierter Student und sein mehr als doppelt so alter Professor traten gegeneinander an. Der Ausgang schien schon von vorneherein festzustehen. Squash ist ein schnelles Spiel, und es ist unbestreitbar, dass die Reaktionszeiten eines 20-Jährigen denen eines 40-Jährigen überlegen sind. Für den Studenten stand zudem ein interessanter Anreiz auf dem Spiel. Wenn er es schaffte zu gewinnen, würde ihm eine medizinische Examensarbeit erlassen. Der Professor hatte dem Anschein nach nichts weiter zu gewinnen oder zu verlieren – außer vielleicht seinen Ruf: Seit Jahren hatte es kein Student geschafft, ihn zu besiegen.
Das Aufschlagrecht wurde ausgelost, der Student begann. Er stellte einen Fuß in das Aufschlagviereck des Spielfeldes und wollte gerade den Ball hochwerfen, um ihn aus der Luft zu schlagen, da sagte der
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