Voodoo
nicht aus dem Kopf.
Wo war der Junge?
Was war mit ihm geschehen?
Aus genau diesem Grund hatte er alle seine Aufträge zu Ende gebracht: Unerledigte Fälle hielten ihn die halbe Nacht wach, verfolgten ihn, ließen ihn nicht los.
Er fuhr nach Little Haiti. Geschäfte, Bars, der Markt, Clubs. Er war der einzige Weiße weit und breit. Niemand belästigte ihn, viele sprachen ihn an. Mehrmals glaubte er, das eine oder andere Gesicht aus Port-au-Prince oder Pétionville zu kennen, aber es war jedes Mal ein Irrtum.
Jeden Tag aß er in einem haitianischen Restaurant namens Tap-Tap zu Abend. Das Essen war hervorragend, die Bedienung launisch, die Stimmung rau, aber herzlich. Er saß immer am gleichen Tisch, direkt vor einem schwarzen Brett, an dem ein Vermisstenplakat mit Charlies Foto hing.
Ein ums andere Mal ging er den Fall im Kopf durch, chronologisch von vorn bis hinten. Er analysierte alle Beweise, fügte alles noch einmal zusammen. Dann baute er neue Details ein: Hintergrundinformationen, Geschichte, Leute.
Irgendetwas p asste da nicht.
Da war etwas, das er nicht gesehen oder übersehen hatte, oder das er nicht hatte sehen sollen.
Er wusste nur nicht, was.
Es war noch nicht vorbei.
Er musste wissen, was mit Charlie Carver geschehen war.
60
Einundzwanzigster Dezember. Um kurz nach acht Uhr morgens rief Joe ihn an, um ihm mitzuteilen, dass Claudette Thodore befreit und Saxby verhaftet worden war. Saxby hatte sich die Seele aus dem Leibe gesungen, kaum dass sie ihm die Handschellen angelegt hatten, hatte mit allen, vom verhaftenden Polizeibeamten bis zum Sanitäter, einen Deal machen wollen und versprochen, ihnen im Gegenzug für eine Strafmilderung von einem Privatclub in Miami und Leichen in den Everglades zu erzählen.
Pater Thodore war auf dem Weg nach Fort Lauderdale, um seine Nichte zu sehen.
Joe fragte Max, warum um alles in der Welt er im Radisson abgestiegen sei. Max fiel keine auch nur halbwegs intelligente Antwort ein, und so sagte er seinem Freund die Wahrheit. Zu seiner Überraschung bekundete Joe Verständnis und riet ihm, sich alle Zeit zu nehmen, die er brauchte. Wozu sich in etwas stürzen, mit dem man noch für den Rest seines Lebens zu tun haben würde.
Sie verabredeten sich für den nächsten Abend in der L-Bar. Es war ihr erstes Treffen seit Max’ Rückkehr. Joe war schwer beschäftigt gewesen: Zu Weihnachten kamen die Verrückten aus ihren Löchern gekrochen.
»Darf ich Sie einladen, Lieutenant?«, fragte Max Joes Spiegelbild in der Fensterscheibe der Sitzecke.
Joe stand auf, streckte die Hand aus und grinste von einem Ohr zum anderen. Sie umarmten sich.
»Du siehst gut aus, Max«, bemerkte Joe. »Nicht mehr, als hättest du die letzten zehn Jahre kopfüber in einer Höhle gehangen.«
»Und du, abgenommen?«, fragte Max. Neben Vincent Paul konnte kein anderer Mann mehr groß aussehen, aber Joe hatte definitiv mehr verloren als nur seinen Platz in Max’ Hitliste. Seine Augen waren größer, die Wangenknochen zu erahnen, der Kiefer sah eine Spur kantiger aus und der Hals ein klein wenig dünner.
»Ja, bin ein paar Pfunde losgeworden.«
Sie setzten sich. Der Barmann kam. Max bestellte einen doppelten Barbancourt ohne Eis, Joe einen mit Cola.
Sie unterhielten sich, ein Gespräch unter alten Freunden, leicht und ohne Eile. Sie fingen im Kleinen an und arbeiteten sich zu den großen Themen vor. Sie bestellten einen Drink nach dem anderen. Max erzählte seine Geschichte ziemlich gerade herunter, dröselte alles Stück für Stück auf, so wie es passiert war, angefangen bei seinem Treffen mit Allain Carver in New York bis hin zu Vincent Paul in Pétionville. Joe hörte ihm schweigend zu, aber Max sah, wie das Leuchten im Gesicht seines Freundes langsam erstarb, als er ihm in allen Einzelheiten von seinen Erkenntnissen berichtete. Joe wollte wissen, was mit Gustav Carver geschehen würde.
»Ich nehme an, man wird ihn den Eltern der entführten Kinder ausliefern.«
»Gut. Ich hoffe, dass die alle eine Scheibe von ihm abkriegen. Eine für jedes Kind«, brummte Joe. »Ich hasse diese Schweine, Mann! Ich hasse sie!«
»Was passiert mit dem Ring?«
»Um die Perversen in Florida kümmern wir uns. Wir haben eine Sonderkommission eingerichtet, die sie festnehmen wird. Das wird alles in den nächsten Tagen über die Bühne gehen«, sagte er. »Bei den anderen bin ich gerade dabei, die Fälle an Freunde von mir in den anderen Bundesstaaten zu übergeben, und das FBI wird auch zu tun
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