Vor dem Sturm (German Edition)
reiche die Flasche an Marquise weiter. Dies ist das fruchtsaftähnlichste Getränk, das wir je im Haus hatten. Mama hat es immer in den Einkaufswagen gepackt, während ich im Korb saß und durch den Laden gefahren wurde; sie zwängte das rote Getränk neben mir auf den Sitz, sodass mein Bein von der Flasche ganz kalt wurde. Aber mirgefiel das, denn später im Wagen, der keine Klimaanlage hatte, war mein Bein immer noch kalt, wie ein Stück Eis, das in meiner Hand schmolz.
Der Welpe kratzt an der Eimerwand, und Skeetah beugt sich mit hängendem Kopf über ihn und schaut ihn an. Ab und zu berührt er den Eimerrand, als wolle er hineinlangen, um den Welpen zu tätscheln, ihn zu trösten, aber er tut es nicht.
»Du hast ihm gar kein Namen gegeben, oder, Skeet?«, frage ich.
»Nein.« Er blickt nicht auf. »Du kannst ihm einen Namen geben, wenn du willst, Esch.« Er hat das Kinn in die Hände gestützt. »Es ist ein Mädchen.«
Einen Namen. Ich kannte mal ein Mädchen in der Schule, die nach den Kerzen benannt war, die man anzündet, um die Mücken zu vertreiben: Citronella. Sie hatte immer mindestens zwei Jungs, trug Lipgloss, und alle ihre Hefte passten farblich zu den Büchern. Ich habe mich immer bis zum Hals ins Wasser gekniet und sie beobachtet, wenn wir ihr und ihrer Familie zufällig beim Baden im Fluss begegnet sind. Sie war so golden wie diese Kerzen, so perfekt, dass ich sie hassen wollte. Und ein bisschen tat ich das auch. Aber manchmal sagte ich ihren Namen, wenn ich irgendwo entlanglief und mit mir selbst redete, und ich mochte seinen Klang, die Art, wie er sich um meine Zunge legte wie ein Mundvoll Eiscreme.
Citronella
. Am liebsten würde ich den Welpen so nennen, aber ich glaube, zumindest Marquise würde mich auslachen, weil er sie kennt. Vermutlich war er mal einer ihrer Freunde, ist mit ihr die Straße runter in den Park gegangen und hat Händchen gehalten.
»Nella«, sage ich. »Ich möchte sie Nella nennen.«
Skeet nickt. Big Henry will mir seine Bierflasche reichen, aber ich schüttele den Kopf. Die Chilisoße zieht mir immer noch die Spucke von der Zunge, aber ich weiß, dass ich wahrscheinlichweinen muss, wenn Nella stirbt, und mehr Salz will ich nicht. Marquise schiebt einen Stock ins Feuer und stochert in der Asche.
»Das ist ein schöner Name«, sagt Big Henry mit einem Lächeln, das vage aufscheint und dann verblasst. Skeet schaut in den Eimer, als habe er es nicht gehört. Trotzdem wallt das kleine bisschen Glück, das beim Auswählen des Namens in mir war, kurz auf und verlöscht dann. Wozu ihr zum Sterben einen Namen geben?
Es knackt im Wald, Laub raschelt auf dem Boden, und Randall und Manny tauchen auf. Manny kriegt das volle Licht des Feuers ab, nimmt es in sich auf und funkelt förmlich. Er lächelt. Seine Narbe glänzt, und mein Herz errötet.
»Junior ist endlich eingeschlafen«, sagt Randall. »Manny sagt, sein Cousin Rico hat den Hund, den er vor Kilo hatte, durch Parvo verloren.«
Manny setzt sich neben Randall ans Feuer und trinkt so viel von dem Punsch, den Marquise ihm gereicht hat, dass nur noch Schaum in der Flasche bleibt.
»Du solltest ihn gleich töten«, sagt Manny. »Ihm die Schmerzen ersparen. Rico hat seinem Hund die Kehle durchgeschnitten, sobald er gesehn hat, dass er krank ist. Jetzt sofort, du quälst ihn nur.«
»Nein«, sagt Skeet. »Es ist noch nicht so weit.«
»Willst du ihn erschießen?« Manny schaut das Gewehr an. »Das geht immerhin schnell.«
»Nein, will ich nicht.«
»Wie willst du es dann machen?«
Skeetah blickt auf, aber als er spricht, schaut er Randall an, nicht Manny.
»Weißt du noch, wie Mama immer die Hühner getötet hat?«, fragt Skeetah.
Die Zikaden in den Bäumen sind wie plötzliche Regengüsse, ihr Singen ertönt in Wellen aus dem schwarzen Gestrüpp der Bäume. Als Randall spricht, starrt er Skeetah an, der den Eimerrand umklammert.
»Sie hat nur eins getötet, wenn etwas Besonderes war, wenn einer von uns Geburtstag hatte oder wenn es Daddys und ihr Hochzeitstag war. Sie hat sie beobachtet, sie schien jedes einzelne zu kennen, sie wusste, welches gerade Eier ausbrütete, welches eine Weile nicht gelegt hatte, welches einfach nur alt und fett wurde. Schien fast, als ob die Hühner Bescheid wussten; sie wurden nervös. Sie liefen durcheinander, blieben in Gruppen zusammen, kamen nicht mehr in den Stall. Und kaum dass man sich’s versah, schnappte sie sich eins, brachte es hinters Haus zum Stamm der großen alten Eiche,
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