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Vor dem Sturm (German Edition)

Vor dem Sturm (German Edition)

Titel: Vor dem Sturm (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jesmyn Ward
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Blätter; darunter verrottet alles und wird zu Erde. Skeetah schaut mich kopfschüttelnd an und blickt nach oben in die Baumwipfel. Wir warten.
    Vor einem Hurrikan machen die Tiere, die dazu in der Lage sind, dass sie wegkommen. Vögel fliegen nach Norden vor dem Sturm davon, und alles andere wandert so weit wie möglich von Wind und Regen weg. Die Luft war in den letzten Tagen klar. Hell. Jeder Tag war beinah unerträglich hell und heiß und dicht, so wie ich mich fühle, wenn Manny schwitzend auf mir liegt: golden, brennend. Unter unseren Füßen tummeln sich die Insekten, die Eichhörnchen springen von Baum zu Baum, die Krähen gleiten krächzend zwischen den Baumkronen hindurch. Ihr Flügelschlag klingt so weich wie das Rascheln von Mudda Ma’ams Besen, wenn sie auf ihrem sandigen Hof die Kiefernnadeln wegfegt. Skeetah betrachtet die Krähen so, wie er China betrachtet: als könnte sie jeden Augenblick anfangen zu reden und würde, wenn es so weit war, garantiert eine Antwort geben auf alle Fragen, die er sich je gestellt hat. Daddy spinnt, denke ich, er ist diesen Sommer geradezu besessen von Hurrikans. Letzten Sommer, als einer der Wirbelstürme ein Einkaufszentrum in Germaine getroffen hatte, war er davon überzeugt, die Golfküste würde zu einer neuen Tornadostraße werden. Den ganzen Sommer lang hat er uns immer wieder die sichersten Plätze im Haus gezeigt, wo wir uns im Fall des Falles hinhocken sollten. Immer wenn er Junior in der Küche antraf, musste er die Tornado-Übung machen, die wir alle in der Schule gelernt hatten: hinknien, Oberkörper an die Oberschenkel legen, Kopf zwischen die Beine stecken, den Nacken mit den knochigen Fingern bedecken, um die weiche Kehle dar unter zu schützen.
    Skeetah nimmt das Gewehr von der Schulter und spannt es. Er hält es locker, sein Blick geht hin und her, als lese er etwas, das zwischen den Bäumen in die Luft geschrieben wurde.
    »Skeet. Auf was willst du schießen?«
    »War nicht genug Dosenfleisch zum Klauen da.«
    »Ich koch das nich, Skeet.«
    Skeetah schultert das Gewehr. Er zielt auf den Himmel. Der Wind bewegt leicht die Baumwipfel und erstirbt dann, wie wenn ein Mensch das Zimmer verlässt. Die Bäume schweigen sehnsüchtig. Das Gewehr schneidet hin und her. Skeetah zielt, folgt den Eichhörnchen, die durch die Bäume huschen. Sie sind flauschig und grau, dick vom Sommerfutter.
    »Schsch«, sagt er. »Wir brauchen was zu essen.«
    Ein Zweig knackt. Die Kronen der Kiefern berühren sich, als wieder Wind aufkommt, aber die Eichen regen sich nicht. Die Eichhörnchen mögen die Eichen am liebsten, sie flitzen über die schwarzen, harten Aststraßen und Brücken. Die Eichen sind für sie solide Häuser; sie werden einem Sturm trotzen, wenn er kommt. Es riecht stark nach ausgedörrten Kiefern.
    »Hab ich dich«, sagt Skeetah und schießt.
    Der Schuss prallt an einer Kiefer ab und macht dabei ein sattes, dumpfes Geräusch, das wie ein Schlag klingt. Skeet zuckt zurück. Die Eichhörnchen tauchen aus den dunklen Astgabeln auf und wieder ab, umrunden die gebogenen Stämme, erscheinen und verschwinden. Als eins, dem die Hälfte des Schwanzes fehlt, im V einer Eiche auftaucht und daran hinabgleitet, um bis zum Boden zu krabbeln, feuert Skeet noch einmal. Das Eichhörnchen verliert den Halt, ballt sich zu einer Kugel zusammen und rutscht am Stamm hinunter. Es hinterlässt einen roten Streifen. Sein halber Schwanz zuckt, dann bleibt es still auf der Erde liegen. Es ist groß für ein Mississippi-Eichhörnchen.
    »Ich nehm das nich aus.«
    Die Krähen fliegen kreischend davon. Die Insekten in den Baumkronen schreien im Chor.
    Skeetah hebt das Eichhörnchen mit beiden Händen auf; er versucht,den Körper zusammenzuhalten, damit er nicht in Stücke zerfällt. Blut spritzt pulsierend aus ihm heraus. Das Herz.
    »Du willst doch, dass er heut Abend kommt, oder?«
    »Von wem redest du?«
    »Du weißt, von wem ich rede. Von Big Henry jedenfalls nich.« Er schnippt ein Stück tropfende Haut weg, die wie ein roter Ohrring am Fell des Tieres baumelte. »Auch nich von Marquise.«
    »Nein.« Ich schüttele den Kopf. Skeetah packt den Rest des Schwanzes und zieht. Was davon noch übrig war, ehe er das Eichhörnchen erschossen hat, geht ab wie Borsten von einer Bürste.
    »Ihr seht nich aus, als passt ihr gut zusammen«, sagt Skeetah und betrachtet den blutigen Kadaver. Ihm ist so heiß, dass sogar seine Nase schwitzt.
Tun wir aber
, will ich sagen.
Er bringt mein Herz auch so

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