Vorkosigan 13 Komarr
unvorstellbar fand, ihn so verfolgte. Vielleicht fand er es gar nicht so unvorstellbar? Sie hatte kaum die Energie aufgebracht, sich darüber den Kopf zu zerbrechen.
Sie bot einen mitternächtlichen Imbiss an, doch nur Onkel Vorthys nahm die Einladung an, und dann trennten sich alle und begaben sich in ihre jeweiligen Schlafquartiere. Als ihr Onkel endlich mit dem Essen fertig war und gute Nacht gesagt und sie alles aufgeräumt und auf dem Weg zu ihrem eigenen Schlafzimmer nach Nikolai
geschaut hatte, da lag Tien schon auf seiner Seite im Bett und hatte die Augen geschlossen. Er schlief noch nicht; er hatte ein sehr typisches Beinahe-Schnarchen, wenn er wirklich eingeschlafen war. Als sie neben ihm ins Bett schlüpfte, drehte er sich herüber, schlang seinen Arm um sie und kuschelte sich eng an sie.
Er liebt mich, auf eine unbeholfene Weise. Der Gedanke 198
ließ sie fast weinen. Doch welche anderen menschlichen Beziehungen hatte Tien, abgesehen von ihr und Nikolai?
Seine ferne Mutter, die erneut geheiratet hatte, und den Geist seines toten Bruders. Manchmal klammerte sich Tien nachts an sie wie ein Ertrinkender an einen Baumstamm.
Falls es eine Hölle gab, so hoffte sie, dass Tiens Bruder sich darin befand. In einer Hölle für die Vor. Er hatte das Angemessene getan, o ja, indem er seine eigene Mutation ausgerottet und damit ein Beispiel gesetzt hatte, dem –
sozusagen – nachzuleben Tien unmöglich war. Tien hatte versucht, es ihm gleichzutun, zweimal am Anfang der Ehe und einmal später, und dabei waren nur Selbstmordversuche herausgekommen, die so halbherzig gewesen waren, dass sie kaum als Gesten gelten konnten. Die beiden ersten Male war sie äußerst erschrocken gewesen.
Eine Zeit lang hatte sie geglaubt, ihre Loyalität und Abhängigkeit seien das Einzige, was ihn am Leben hielt.
Beim dritten Mal war sie schon abgestumpft. Noch mehr davon, und sie würde gar nicht mehr menschlich reagieren.
Sie kam sich schon jetzt kaum noch menschlich vor.
In der Hoffnung, sie könnte so tun, als fiele sie in Schlaf, verlangsamte sie ihre Atmung und gab vor, zu schlafen.
Nach einer Weile erhob sich Tien, der genauso wenig schlief wie sie, und ging ins Badezimmer. Doch anstatt ins Bett zurückzukehren, stapfte er leise durch das Schlafzimmer und hinaus in Richtung Küche. Vielleicht hatte er seine Meinung über den Imbiss geändert. Würde es ihm gefallen, wenn sie ihm etwas Milch mit Brandy und
Gewürzen wärmte? Es war ein altes Familienrezept und Hausmittel, das ihre Großtante auf den Südkontinent 199
mitgebracht hatte; als Trosttrank für eine zu Besuch weilende kranke Nichte. Allerdings schien der größere Teil der großzügigen Portionen immer irgendwie seinen Weg in die eigene Tasse der alten Dame gefunden zu haben.
Ekaterin lächelte, als sie daran dachte, und tappte hinter Tien her in die Küche.
Das schwache Licht, das sie sah, stammte nicht vom
Kühlschrank, sondern vom KomKonsolen-Terminal in der Küche. Sie blieb verdutzt in der Tür stehen. Im Haushalt ihrer Eltern war der einzige zulässige Grund, um zu dieser Nachtzeit jemanden anzurufen, entweder die Nachricht von einer Geburt oder von einem Todesfall gewesen. Ekaterin entdeckte, dass sie diese Regel verinnerlicht hatte.
»Was zum Teufel hatte Radovas’ Leiche dort oben zu
schaffen?«, sagte Tien, der ihr den Rücken zukehrte, heiser und leise zu dem Torso über der Vid-Scheibe. Verwundert erkannte Ekaterin seinen Untergebenen, Administrator Soudha. Soudha trug nicht einen Pyjama, wie sie es
erwartet hatte, sondern war noch für den Tag gekleidet.
Arbeitete er noch so spät? Nun ja, Ingenieure waren eben so. Sie zog sich ein wenig in die Dunkelheit des Korridors zurück. »Sie haben mir gesagt, er hätte gekündigt.«
»Das hat er auch«, erwiderte Soudha. »Was danach mit ihm passiert ist, ist nicht unser Problem.«
»Das ist es schon, verdammt noch mal. Morgen werden wir die ganze Abteilung voller herumlungernder KBS-Leute haben. Den echten KBS, nicht nur ein paar VIPs auf Tour, die wir im Kreis herumführen, zum Abendessen
einladen und dann verabschieden können. Ich habe schon gesehen, wie Tuomonen diesen beschissenen Blick kriegt, 200
wenn er nur daran denkt.«
»Wir werden schon mit ihnen fertig. Gehen Sie nur
wieder ins Bett, Vorsoisson.«
Lord Auditor Vorkosigan hat dir klipp und klar gesagt, dass er eine unangekündigte Inspektion machen möchte, Tien. Er spricht mit der Stimme des Kaisers. Was machst du da? Sie
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