Vortex: Roman (German Edition)
überinterpretierte, genauso interessiert an ihr zu sein wie sie an ihm. Und trotzdem … brauchte sie das wirklich?
Ganz zu schweigen vom unvermeidlichen Getratsche im sozial ausgehungerten Universum der State Care. Schwester Wattmore hatte eine halbe Stunde Vorsprung – Zeit genug, um zu verbreiten, dass Sandra mit einem Polizisten zu Mittag gegessen hatte. Und so erntete sie wissende Blicke und süffisantes Lächeln von den Schwestern an der Aufnahme. Pech – aber Wattmore war wie eine Naturkraft, so unaufhaltsam wie die Gezeiten. (Natürlich wurde in beide Richtungen getratscht. So wusste Sandra etwa, dass Mrs. Wattmore, eine vierundvierzigjährige Witwe, mit dreien der vier früheren Stationsleiter geschlafen hatte. »Diese Frau lebt in einem Glashaus«, hatte ihr eine andere Schwester in der Kantine anvertraut. »Wussten Sie, dass sie neulich dieselben Pausenzeiten hatte wie Dr. Congreve?«)
Sandra ging schnell in ihr Büro und schloss die Tür. Sie warf einen schuldbewussten Blick auf die Unterlagen auf ihrem Schreibtisch, die sie eigentlich noch heute bearbeiten sollte, dann schob sie sie beiseite, nahm den Umschlag, den Bose ihr mitgegeben hatte, aus der Tasche, zog das Bündel eng beschriebener Seiten heraus und begann zu lesen.
Etliche neue Fragen brannten ihr unter den Nägeln, als sie sich am Abend mit Bose traf.
Diesmal hatte er das Lokal ausgesucht, ein irischer Pub in Northside: Shepherd’s Pie, Guinness und grüne Papierservietten, die mit Bildern von Harfen bedruckt waren. Er wartete bereits, als sie kam. Eine Frau saß mit ihm am Tisch.
Die Frau trug ein blau geblümtes Kleid, das in keinem besonders gutem Zustand war. Sie war mager, fast ausgezehrt, und schien nicht nur nervös, sondern auch verärgert zu sein. Als Sandra sich dem Tisch näherte, sah die Frau sie von oben bis unten an.
Bose erhob sich hektisch. »Sandra, ich möchte Sie mit Ariel Mather bekannt machen – Orrins Schwester.«
6
TURK
1.
Nachdem die Farmer uns gefangen hatten, hatte es Momente gegeben, in denen ich nicht mehr wusste, ob ich leben oder sterben wollte. Sollte es in dem Leben, das ich gelebt hatte – von jener unverzeihlichen Tat, die dazu geführt hatte, dass ich vor vielen Jahren Houston verlassen hatte, bis zu dem Moment, als ich in der äquatorianischen Wüste aufgewacht war –, irgendeinen Sinn geben, so konnte ich ihn nicht sehen. Aber jetzt meldete sich der schiere Überlebenswille. Ich sah, wie sich Schwärme voxischer Kampfmaschinen daranmachten, die rebellierenden Farmer systematisch abzuschlachten, und ich wollte nur eines: diesem Schicksal entgehen.
2.
Wir blickten über den Rand des schräg abgestellten Wagens und sahen, wie sich die Apokalypse über die baumlose Ebene rings um Vox-Core wälzte. Schon beim Aufheulen der Sirenen hatten die Farmer mit dem Rückzug begonnen. Nun, beim Anblick der Jagdmaschinen, ließen sie ihre Waffen fallen und liefen auseinander. Doch die voxischen Jäger kamen unerbittlich näher und stießen wie Raubvögel auf die Flüchtenden hinab. Die Waffe, die sie einsetzten, war mir neu: Sie schleuderten Feuerwellen, die über die Ebene rollten, um dann wie Wetterleuchten zu verschwinden und V-förmige Areale schwelenden Bodens mit verkohlten Leichen zu hinterlassen. Und jedes Mal war dabei eine Art seismisches Ausatmen zu hören, so gewaltig, dass ich es im Brustkorb spürte. Dazu heulten die Sirenen wie unaufhörlich klagende Riesen.
Kurzzeitig hatte es den Anschein, als wären wir hier in der Hanglage sicher. Dann legte sich ein Jäger in die Kurve – gerade so als meinte er uns –, und der Wind trug den Gestank von Rauch und brennendem Fleisch herauf. Die Männer, die uns bewacht hatten, nahmen Reißaus und versuchten, den nahen Wald zu erreichen, nur Digger Choi schien wie zur Salzsäule erstarrt. Unsere Blicke trafen sich. Er zitterte beinahe vor Angst. Ich zeigte ihm meine gefesselten Hände in der Hoffnung, dass er verstand, was ich meinte, und Allison schrie ihm einige Worte auf Voxisch zu.
Digger Choi kehrte uns den Rücken zu.
»Nimm uns die Fesseln ab, du feiger Hund!«, rief ich, und obwohl der »Hund« ganz sicher kein Englisch verstand, hielt er inne und drehte sich wieder um. Mit angstverzerrter Miene und finsterem Blick ging er dann zum Wagen, entriegelte die Einstiegklappe, zog sein Messer hervor und durchtrennte mit zwei hastigen Schnitten unsere Fesseln, erst Allisons, dann meine. Die Klinge verletzte mein Handgelenk, aber das war mir egal
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