Vorzeitsaga 02 - Das Volk des Feuers
gestiegen. Sie schluckte, denn sie war überzeugt, die alte Hexe wußte genau, wer ihre Beerenpastetchen gestohlen hatte.
Ein großer orangefarbener Kreis wurde auf ihren flachen Unterleib gemalt, das Symbol der Morgensonne, die dem Tag neues Leben brachte, wie ihre Lenden dem Rothand-Volk neues Leben bringen würden.
Sie erduldete diese Prozedur, weil sie wußte, jedes junge Mädchen vor ihr und nach ihr mußte dieses Ritual ebenso über sich ergehen lassen. Niemand sprach je offen darüber; trotzdem hatte sie aus geflüsterten Unterhaltungen davon erfahren und mit ihren Freundinnen Grille und Tangara darüber geredet. Es war ihr immer reichlich unwirklich erschienen, bis sie es am eigenen Leib verspürt hatte.
Singend und mit ihren Rasseln aus Rehhufen lärmend waren die alten Frauen in Begleitung ihrer Mutter gegangen. Nun wußte jeder, bei dem Rothand-Volk gab es eine neue Frau.
Reizende Wapiti spürte den Unterschied zu ihrem bisherigen Leben deutlich. Sie hatte die Männer beobachtet, die lachend, singend und in die Hände klatschend neben dem feierlichen Zug hertanzten.
Mit großen Augen hatten Grille und Tangara vom Rande des Lagers aus das Spektakel verfolgt. Sie wußten, ihre unbeschwerte Freundschaft war vorbei. Reizende Wapiti würde nicht mehr mit ihnen lachen und scherzen wie ein Kind. Auch die Spiele wie Reifen mit einem Stock antreiben, gehörten endgültig der Vergangenheit an. Sie mußte die Pflichten einer Frau übernehmen - und hatte nicht die geringste Ahnung, worüber die Frauen lachten oder was ihre derben Scherze zu bedeuten hatten.
Ein Mann würde sie besitzen wollen. Dieser Gedanke kam ihr urplötzlich in den Sinn. Er wehte durch ihre Seele wie eine frische Brise an einem heißen Tag durch eine aufgerollte Zeltwand.
Sie war bisher so von anderen Dingen in Anspruch genommen gewesen, daß sie gar nicht gleich daran gedacht hatte.
Ein Mann hatte sich den Tanzenden nicht angeschlossen. Der Hüter des Wolfsbündels sah nur zu, sein hartes Gesicht blieb ausdruckslos.
Doch trotz der Entfernung fühlte sie die Erwartung in seinen Augen. Mit wachsam erhobenem Kopf witterte der meisterhafte Jäger seine Beute.
Mit einem Leuchten in den Augen hatte er lächelnd in ihre Richtung geblickt. Die Erkenntnis hatte sie getroffen wie ein Schlag:
Blutbär wollte ihr erster Mann sein!
Verzweifelt hatte sie Tangara zu ihrer Mutter geschickt, doch noch während sie um eine Erklärung rang, um ihr den Grund für ihre Bitte nicht in allen Einzelheiten schildern zu müssen, war der Irrwisch Tangara bereits in die Nacht hinausgeschlüpft.
Als an diesem Nachmittag Lieder und monotoner Singsang aus dem Lager erklang, hatte sie sich fröstelnd in ihre Decke gewickelt. Man erwartete, daß sie morgen vormittag das Zelt verließ. Was dann?
Blutbär würde auf der Lauer liegen. Wie konnte sie sich ihm verweigern, wenn er sie außerhalb des Lagers abfing? Niemand verweigerte sich dem Hüter des Wolfsbündels. Blutbär hatte das gestohlene Herz und die Seele des Rothand-Volkes zurückgebracht. Er konnte sich nehmen, wen oder was er wollte.
Sie kniete nieder und lugte wieder unter der Zelttür durch. Ein dunkler Schatten sonderte sich vom Lager ab und kam den Trampelpfad herauf. War es Tangara endlich gelungen, in das Zelt ihres Stiefvaters zu schlüpfen und ihre Mutter zu bitten, zu ihr ins Menstruationszelt zu kommen?
Mokassins aus weichem Leder huschten über den Pfad, das leise Rascheln von fransenbesetztem Leder auf nackter Haut war zu vernehmen.
Plötzlich bewegte sich die Zelttür und Klappernde Hufe bückte sich hindurch.
»Was höre ich da, meine Tochter? Du möchtest mich sehen?«
»Ich muß mit dir reden.«
Die Mutter lachte ihr so typisches, kehliges Lachen. Seufzend ließ sie sich nieder und rollte sich auf dem mit Fellen und Häuten ausgelegten Boden des Zeltes auf die Seite. Entspannt streckte sie die Beine aus, stützte sich auf einen Arm und blickte durch die Dunkelheit zu ihr herüber.
»Beunruhigt es dich, eine Frau zu sein? Tangara hat sich nicht gerade sehr deutlich ausgedrückt.«
Reizende Wapiti schluckte vernehmlich und nickte. Die alte Vertrautheit, die sie miteinander verband - das unbedingte Verständnis von Mutter und Tochter, die viel gemeinsames Leid geteilt hatten -, machte Worte fast überflüssig.
»Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Da kann nicht viel schiefgehen. Ich habe es schließlich auch geschafft, ha? Du brauchst nur du selbst zu sein. Laß alles auf dich
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