Vorzeitsaga 07 - Das Volk der Blitze
man zu viel trank.
Als Teichläufer sie wieder aufs Gras sinken ließ, drehte sich alles vor ihr, die Sterne wurden zu silbernen Streifen und die Zweige zu verwischten schwarzen Wellen. In der Kehle hatte sie den bitteren Geschmack von Galle.
Teichläufer stellte die Kalebasse ab und beugte sich aufgeregt über sie. »Besser?« fragte er.
Nach einer Weile sagte sie stockend: »Teichläufer?«
»Ja, mein Weib?«
»Geht es dir gut?«
Er schaute ihr forschend ins Gesicht und schien sie zu verstehen, ohne sie zwingen zu müssen, noch mehr Kraft durch Erklärungen zu verlieren. »Du hältst mich sicher für einen schwächlichen Narren«, murmelte er. »Aber ich habe noch nie einen Menschen getötet.« Er wischte sie die Handflächen an seinem Gewand ab, als wolle er sie von all dem Blut rein waschen.
»Ich weiß nicht, wie es geschehen ist. Meine Hände haben sich wie von selbst bewegt, und ich wusste gar nicht, was sie taten.«
»Und?«
»Mir ist übel.«
Muschelweiß sog ihre Lungen voll, damit die kalte Luft ihr etwas von der brennenden Hitze in ihrem Körper nahm. »Das ist auch richtig. Wenn dir nicht übel wäre, dann könnte ich glauben, dir mache das Töten Spaß. Und dann müsste ich dir über den Schädel schlagen und dich den Bären überlassen.« Sie lächelte schwach.
Teichläufer runzelte die Stirn. »Aber ich dachte immer, Krieger -«
»Nein.« Sie schloss die Augen. Die Wellen der Übelkeit drohten sie zu überrollen. Sie kämpfte dagegen an und versuchte, die Wasser ruhig zu halten. »Kein Krieger tötet gern. Es ist nur manchmal einfach notwendig. Und wenn es notwendig ist, dann denken Krieger nicht nach. Sie tun, was nötig ist, um zu überleben. Hättest du dir deine Handlungen erst überlegt, dann wärst du jetzt tot, und ich wäre es auch.«
»Aber zwei Männer«, sagte er mit gepresster Stimme. »Ich habe zwei Männer getötet.«
»Wär's dir lieber, wenn sie noch lebten und wir tot wären?«
Sein Kopf fiel herab, das lange weiße Haar hing ihm um das Gesicht herum. »Mir war lieber, wir wären alle noch am Leben.«
»Hattest du denn eine Wahl?«
»Nein, ich glaube nicht.«
Mit großer Anstrengung schob sie ihre Hand zu ihm hin und berührte sein Knie. Er ergriff ihre Finger und hielt sie fest.
»O mein Weib, ich fühle mich so leer.«
»Ich weiß, aber ich bin stolz auf dich, Teichläufer. Heute warst du ein Krieger. Ich verdanke dir mein Leben.«
Er küsste ihre Finger mit Lippen, die wie Eis waren, und Tränen rollten ihm über die bleichen Wangen und fielen auf ihre Stirn, kühl und besänftigend. Wie ein verirrtes Kind klammerte er sich an ihre Hand, als fiele seine Welt zusammen, wenn er losließe.
»Ich danke dir, mein Gatte, für mein Leben.«
Sie versuchte, seine Hand zu drücken, um seine Ängste zu verjagen, aber die Anstrengung löste Wellen von Schmerzen aus, die sie überrollten. Die Qualen sogen sie in ein heißes Meer, wo die Winde der Vernichtung sie hin- und herwarfen; äußerste Einsamkeit und unauslotbarer Schrecken bedrängten sie dort in der Gestalt riesiger formloser Ungeheuer, die fauchend nach ihr griffen, nach ihr bissen und versuchten, sie zu zerreißen. In dieser Schwärze formten sich Gesichter, die sich zu Szenen wandelten: Dörfer, die brannten, als die Schilfdächer in Flammen aufgingen; ein alter Mann, ein Skelett fast, mit ihrem Speer im Leib, der kopfüber in den Sand fiel; Leichen von Leuten, die sie geliebt hatte, am Strand hinter der Pelikan-Insel übereinander geworfen; Frauen, die ihre Kinder ergriffen und rannten; Waschbären und Möwen über den Leichen von Kriegerinnen, die sie getötet hatte, weil sie ihrem Befehl, die Waffen niederzulegen, nicht schnell genug gehorcht hatten. Wo war das geschehen? In welchem Dorf? Die Schreie eines Kindes hallten aus der Schwärze und unterbrachen ihr Suchen. Da stand plötzlich ein kleiner Junge hinter ihr, vier Sommer alt, vielleicht fünf, nachdem sie seinen Vater getötet hatte, und hatte sie mit seinem armseligen Speer in die Schulter stechen wollen. Sie war herumgewirbelt, ohne zu denken, das Messer in der Hand …
In all dem schreckensvollen Geschehen konnte sie Tauchvogel rufen hören, und er hörte nicht auf zu rufen, aber sie fand nicht die Kraft, ihm zu antworten. Ungeheuer jagten sie, und sie musste rennen, rennen, rennen …
Ich liege erschauernd auf der Seite vor meinem kleinen Feuer, und in der kalten Brise, die um das Sumpfgebiet weht, sehe ich die rubinäugige Glut blinken. Es
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