Voyeur
nicht, dass sie sich etwas antun würde, aber falls sie wieder hysterisch wird, sollte
jemand hier sein.»
«Und morgen?» Bei dem Gedanken, mit Anna in diesem Zustand allein zurechtkommen zu müssen, kam Panik in mir auf.
«Ich habe vormittags frei, doch nachmittags muss ich zur Arbeit. Aber ich habe ihre Eltern angerufen, und ihre Mutter kommt
so gegen Mittag her. Ich bin froh, denn es muss echt jemand auf Anna aufpassen, bis sie darüber hinweg ist. Ich |279| meine, so wie sie in letzter Zeit unter Druck gestanden hat, musste sie irgendwann zusammenbrechen. Ich habe es kommen sehen.
Das hat sich seit Wochen aufgestaut, und gestern ist es wohl einfach aus ihr herausgebrochen. Gott, wenn man weiß, dass
man an dem Tag eigentlich gemeinsam in die Staaten fliegen wollte! Das hat ihr einfach den Rest gegeben. Ich habe versucht,
ihr zu sagen, dass es nichts zu bedeuten hat, aber sie hat gar nicht zugehört. Sie ist jetzt überzeugt, dass Marty tot
ist, und man kann ja nicht viel sagen, um sie zu beruhigen, oder? Ehrlich, was soll man da sagen? Es sieht nicht besonders
gut aus, oder?»
Auf diese Diskussion wollte ich mich nicht einlassen. «Wie lange bleibt Annas Mutter?»
«Ach, sie bleibt nicht. Sie will Anna mit nach Hause nehmen.»
«Nach Hause?», wiederholte ich ungläubig.
«Nach Cheltenham.»
Damit hatte ich nicht gerechnet. «Für wie lange?»
«Keine Ahnung. Bis sie sich wieder gefangen hat, nehme ich an.» Etwas in meiner Stimme muss sie stutzig gemacht haben. «Sie
haben doch nichts dagegen, oder? Dass sie eine Zeitlang freinimmt, meine ich?»
«Lieber Gott, nein. Natürlich nicht. Sie haben recht, es muss jemand auf sie aufpassen.» Unberührt zu klingen war leichter,
als unberührt zu sein. Denn der Gedanke an eine möglicherweise wochenlange Trennung erzeugte ein leeres Gefühl in meinem Magen.
Ich sagte mir, dass ich Anna eine gewisse Phase der Anpassung zugestehen musste und dass sie sich durch einen Ortswechsel
vielleicht schneller erholte. Aber das machte mich nicht glücklicher.
|280| Die Aussicht auf ein Leben ohne Anna, selbst für einen kurzen Zeitraum, war einfach zu schrecklich.
*
Bevor sie am nächsten Morgen abreiste, besuchte ich sie noch einmal. Debbie machte mir die Tür auf. «Wie geht es ihr?»,
fragte ich leise.
«Es scheint ihr besserzugehen. Jedenfalls ist sie nicht mehr so hysterisch wie gestern. Nur ganz still, als stehe sie unter
Schock oder so. Ihre Mutter ist hier.»
Wir gingen ins Wohnzimmer. Anna saß auf dem Sofa. Ich war entsetzt, wie sehr sie sich verändert hatte. Sie sah blasser und
lebloser aus denn je und schenkte mir ein dünnes Lächeln, das fast sofort wieder erstarb. Ihre Mutter, die dicht neben ihr
saß, schien dagegen den gesamten Raum zu dominieren, noch ehe sie etwas sagte. Sie war eine große und dralle Frau, und
selbst ihr geblümtes Kleid war aufdringlich und forderte Aufmerksamkeit.
«Freut mich, Sie kennenzulernen, Mr. Ramsey», sagte sie, nachdem Debbie mich vorgestellt hatte. «Ich habe schon viel von Ihnen gehört.»
Ich gab die üblichen bescheidenen Floskeln von mir. Ihre Hand fühlte sich trocken und kühl, fast ledrig an. «Wie geht es
Ihnen, Anna?», fragte ich.
«Okay.» Sie lächelte wieder schwach.
«Möchten Sie eine Tasse Tee, Mr. Ramsey?», fragte ihre Mutter. Sie wartete nicht auf eine Antwort. «Debbie, wäre es zu viel verlangt, wenn du Wasser aufsetzen
würdest? Wir könnten alle eine Tasse vertragen, bevor wir fahren.»
|281| «Ich gehe schon», sagte Anna und wollte aufstehen. Doch ihre Mutter legte ihr eine Hand auf den Arm.
«Nein, schon in Ordnung, Liebling. Das macht Debbie bestimmt nichts aus, oder, Schätzchen?»
Es machte Debbie etwas aus. Als sie sich zu mir umdrehte, konnte ich ihr ihren Widerwillen ansehen.
«Möchten Sie eine Tasse, Donald?»
«Gern. Wenn es keine Umstände macht.»
«Eigentlich hätte ich lieber Kaffee», sagte Annas Mutter. «Der macht mich wach für die Fahrt. Einen halben Würfel Zucker,
bitte.»
Mit starrer Miene verließ Debbie das Zimmer. Mrs. Palmer lächelte mich wie eine Zeremonienmeisterin an. «Ich hoffe, wir halten Sie nicht von der Arbeit ab. Wie ich höre,
haben Sie schon genug Zeit geopfert.»
«Ach was.»
«Das sagen Sie bestimmt nur so.» Sie wandte sich herrisch an ihre Tochter. «Anna, Liebling, während Debbie Tee und Kaffee
macht, könntest du doch die restlichen Sachen einpacken, oder? Dann können wir
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