VT06 - Erstarrte Zeit
Kauend blickte sie rechts und links den breiten Hauptgang hinunter. Vor jeder Tür standen drei oder vier Männer und Frauen. Sie hatten den Auftrag, im Notfall die Vorratsräume, Lagerhallen und Produktionshallen zu verteidigen. Etwas mehr als dreihundert Männer und Frauen hielten sich in der unteren Bunkerebene auf. Unter Knox’ und Joshuas Führung sicherten sie die technischen Anlagen – Stromversorgung, Wasserverteiler, Wasserwiederaufbereitungsanlage, Luftumwälzung und so weiter.
Endlich leuchtete ein Licht in der äußeren Schaltleiste des Hauptlifts auf. Sissi und Daniel Djananga kehrten zurück. Ein Raunen ging durch den Hauptgang. Die sowieso schon mit Händen zu greifende Spannung stieg noch an. Die Luft schien zu knistern.
Van der Groot und Carlo gingen langsam zum Lift. Carlo hielt ein automatisches Gewehr im Anschlag. Man konnte nie wissen. Van der Groot war unbewaffnet.
Als sie noch fünfzehn Schritte vom Lift entfernt waren, hörten sie Schritte auf der Wendeltreppe des Treppenhauses. Nach oben hin sicherten zwei Mann mit automatischen Gewehren das Treppenhaus. Nach unten, zur dritten Ebene, war es frei zugänglich.
Knox und zwei Tansanier erschienen an der Treppenhaustür. Sie blieben stehen und lugten mit gespannten Mienen um die Ecke in Richtung Hauptlift. Der stoppte jetzt. Die Männer duckten sich wie zum Sprung. Knox hob einen Armeerevolver.
Auch van der Groot und Carlo blieben jetzt stehen. Die Lifttür schob sich auseinander. Kaum wagte der Professor zu atmen.
Sie hatten die beiden anderen Lifte abgestellt und den Antrieb des Hauptlifts so manipuliert, dass man mit ihm nur noch zwischen erster und mittlerer Ebene hin und her fahren konnte.
Nun stand der große Lift vollständig offen. Grelles Licht fiel aus ihm auf den Gang, doch niemand kam heraus. Nicht einmal ein Schatten bewegte sich. Kein Überraschungsangriff also, ein Aufatmen ging durch die Menge im Hauptgang.
»Sissi?«, rief van der Groot. Keine Antwort. »Daniel?« Niemand reagierte.
Knox, den an der Treppenhaustür nur fünf Schritte vom offenen Hauptlift trennten, fasste seinen Revolver mit beiden Händen und pirschte sich von der Seite an den offenen Aufzug heran. Als er die seitliche Leiste mit den Tastfeldern erreichte, drückte er den Rücken dagegen, hob die Waffe an die Schulter und lauschte.
Van der Groot und Carlo beobachteten ihn. Irgendwann sah er zu ihnen und zuckte kurz mit der rechten Schulter. Carlo machte eine knappe Bewegung mit seinem Gewehrlauf. Daraufhin ging Knox ein wenig in die Knie, atmete tief ein und sprang dann vor den offenen Lift. Breitbeinig stand er schließlich davor und zielte hinein.
Er stand seltsam starr, und van der Groot sah, dass er auf den Liftboden blickte. »Was ist?«, fragte der Professor.
Statt zu antworten, ließ Knox erst den Revolver und dann die Schultern sinken. Als hätte er eine schwere Last zu schleppen, wankte er zum Rahmen der Lifttüren, lehnte seinen schweren Körper und seinen von Dreadlocks überfüllten Schädel dagegen. Wie ein Mann ohne Kraft kam er van der Groot plötzlich vor. Er seufzte und murmelte einen Fluch, den weder Carlo noch der Professor verstanden.
»Was ist denn los?« Jetzt setzten sich auch van der Groot und Carlo in Bewegung.
»Tot«, sagte Knox mit rauer Stimme. »Beide tot.« Als wäre sie viel zu schwer, hob er kurz seine Rechte und deutete mit dem Revolver in den Lift hinein.
Die beiden Afrikaner aus dem Treppenhaus wagten sich nun endlich ebenfalls zum Lift. Überall auf dem Hauptgang der Mittelebene standen die zumeist schwarzen Männer und Frauen hinter ihren Barrikaden auf und schritten langsam zum Aufzug. Van der Groot und Carlo blieben bei Knox stehen und starrten in die Liftkabine.
Eine große weiße Porzellanschüssel stand mitten im Aufzug. Und darin lagen zwei Köpfe. Ein Gesicht war von blondem Haar gesäumt, das andere von schwarzem Kraushaar. Tote Augen starrten blicklos und trüb an die Decke der Liftkabine.
»Schweine«, flüsterte Knox. »Verdammte Schweine!«, brüllte er und schlug mit dem Revolverkolben gegen die Liftwand.
Van der Groot riss sich von dem scheußlichen Anblick los. Wie versteinert fühlte er sich. »Sie wollen den Kampf«, murmelte er. »Sie sollen den Kampf haben…«
***
Eine Stunde etwa verbrachten van der Groot, Eusebia und Vera van Dam anschließend im Labor. Jedem war klar, dass die Uhr tickte. Mit jeder Minute, die verstrich, wurde ein Angriff der Kaiserlichen wahrscheinlicher. Der
Weitere Kostenlose Bücher