Wachen! Wachen!
Ziel. Ich brauche es kaum anzuvisieren. Wenn der Drache irgendwelche Ämpfindlichkeiten hat – der Pfeil findet sie zweifellos.«
Er wählte einen anderen Pfeil, der weniger glücklich zu sein schien, obgleich er sich überhaupt nicht vom ersten unterschied. Langsam setzte er ihn auf die Sehne und ließ einen nachdenklichen Blick über die Dächer schweifen.
»Ein bißchen Übung kann sicher nicht schaden«, murmelte Colon. »Obwohl… Wenn man’s einmal gelernt hat, vergißt man es nie. Es ist wie mit, mit, mit etwas, das man, äh, nie vergißt.«
Er zog die Sehne bis zum Ohr und stöhnte erneut.
»In Ordnung«, schnaufte er, während der rechte Arm so heftig zitterte wie ein Zweig im Sturm. »Seht ihr dort drüben das Dach der Meuchelmördergilde?«
Nobby und Karotte starrten durch den schmuddeligen Dunst.
»Gut«, keuchte Colon. »Seht ihr auch die Wetterfahne darauf? Na?«
Karotte beobachtete die Pfeilspitze. Sie neigte sich hin und her, beschrieb komplexe Bewegungsmuster und schien sich nicht für ein Ziel entscheiden zu können.
»Sie ist ziemlich weit entfernt, Feldwebel«, gab der Korporal zu bedenken.
»Kein Problem«, ächzte Colon. »Behaltet die Fahne im Auge.«
Karotte und Nobby nickten. Die Wetterfahne sah aus wie ein geduckter Mann, der einen weiten Umhang trug. Das zum Zustoßen erhobene Messer zeigte immer die Windrichtung an. Auf diese Entfernung war die Gestalt kaum mehr als ein vager Schemen.
»Na
schön«,
brachte Colon mühsam hervor. »Nun, seht ihr auch das Auge des Mannes?«
»Jetzt übertreibst du wirklich«, sagte Nobby.
»Halt endlich die Klappe!« stöhnte Colon. »Ich habe gefragt, ob ihr das Auge seht!«
»Ich glaube,
ich
kann’s sehen, Feldwebel«, erwiderte Karotte ergeben.
»Gut, gut«, murmelte Colon. Die Anstrengung war so groß, daß er vor und zurück schwankte. »Gut. Guter Junge. Wunderbar. Beobachtet das Auge, einverstanden?«
Er stöhnte noch ein letztes Mal und ließ den Pfeil davonschnellen.
Mehrere Dinge geschahen so schnell hintereinander, daß sie in Zeitlupenprosa geschildert werden müssen. Zuerst einmal: Die Sehne schlug an die weiche Innenseite von Colons Handgelenk, woraufhin der Feldwebel schrie und den Bogen fallenließ. Das blieb ohne jede Wirkung auf die Flugbahn des Pfeils, der bereits zu einer steinernen Figur auf dem Dach jenseits der Straße sauste. Er traf sie am Ohr, sprang fort, prallte an einer zwei Meter entfernten Wand ab, kehrte mit noch etwas höherer Geschwindigkeit zu Colon zurück und passierte seinen Kopf in einem Abstand von etwa zwei Zentimetern, wobei ein leises Summen erklang.
Schließlich verschwand er in Richtung Stadtmauer.
Nobby hüstelte nach einer Weile und warf Karotte einen unschuldigen Blick zu.
»Wie groß mag die Ämpfindlichkeit des Drachen sein?« erkundigte er sich.
»Oh, vielleicht ist es nur eine winzige Stelle«, erklärte Karotte hilfsbereit.
»Das habe ich befürchtet«, brummte Nobby. Er ging zum Dachrand und deutete nach unten. »Dort gibt’s einen Teich«, sagte er. »Kühlwasser für die Brennerei. Er dürfte tief genug sein, und daher schlage ich folgendes vor: Nachdem der Feldwebel auf den Drachen geschossen hat, springen wir hinein. Was hältst du denn davon?«
»Oh, aber das ist gar nicht nötig«, entgegnete Karotte. »Der Glückspfeil des Feldwebels trifft bestimmt die Ämpfindlichkeit und tötet den Drachen, und dann besteht kein Anlaß mehr zur Sorge.«
»Da hast du sicher recht«, bestätigte Nobby hastig und sah, wie Colon eine finstere Miene schnitt. »Aber nur für den Fall, weißt du… Ich meine, wenn ein völlig unwahrscheinlicher Zufall – eine Chance von eins zu einer Million – dazu führt, daß er die ämpfindliche Stelle nur knapp verfehlt, ich meine, dann müssen wir damit rechnen, daß der Drache ziemlich sauer wird, und unter solchen Umständen sollten wir besser nicht hier sein. So etwas ist natürlich nahezu ausgeschlossen, ich weiß. Nennt mich von mir aus einen Schwarzseher. Ich halte es trotzdem für besser, alle Möglichkeiten zu berücksichtigen, auch die unmöglichen.«
Feldwebel Colon rückte sich mit betontem Stolz den Brustharnisch zurecht.
»Wenn man sie wirklich braucht«, verkündete er weise, »erfüllen Chancen von eins zu einer Million immer ihren Zweck. Ist eine allgemein bekannte Tatsache.«
»Da hat der Feldwebel recht, Nobby«, warf Karotte ein. »Wenn es nur noch eine einzige Chance gibt, von der man sich Rettung erhofft, so wird man
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