Wakolda (German Edition)
die durchnässten Sachen aus und reichte sie Yanka, die jedes Stück einzeln in einer Zimmerecke auswrang, bevor sie es auf eine kaum zwei Meter von der Feuerstelle gespannte Leine hängte, wo es beim Trocknen tüchtig durchräuchern würde. Nahuel schien keinerlei Scham zu empfinden, aber als er die fremden Blicke auf sich spürte, trat er einen Schritt nach hinten und verschwand etwa zur Hälfte hinter einer zerschlissenen Stoffbahn, die als Raumteiler von der Decke hing. Doch man brauchte sich nur ein wenig vorzubeugen, wie der Deutsche jetzt, um die bescheidene Intimität zu verletzen. Mit gerunzelter Stirn musterte er den Jungen, wie er es immer tat, wenn er ein neues Untersuchungsobjekt vor sich hatte: Dieses hier wog kein Gramm zu viel, hatte keine Spur Fett auf den Rippen, es war nichts zu sehen als Sehnen, gut geformte Muskeln und Hunger … der Hunger von Jahren. Da versperrte ihm ein stämmiger Arm den Blick: Enzo hatte nach einem Stück Wurst gegriffen, steckte es sich in den Mund und kaute genüsslich darauf herum.
»Also wirklich köstlich …«
»Und dabei hat das Schwein von nichts als Luft gelebt.«
»Wieso von Luft?«, fragte Lilith.
»Das sagt man so, du Dummchen«, antwortete Tomás.
»Verstehe ich nicht … Was soll das heißen?«
»Dass hier alle halb verhungert sind.«
»Tomás!«
Die mütterliche Zurechtweisung ließ ihn verstummen. Seine Bemerkung war nicht böse gemeint gewesen, doch Lemúns Gesicht hatte sich, vor Wut oder vor Beschämung, ganz dunkel verfärbt. Enzo seufzte, hier drinnen eine harmlose Unterhaltung in Gang zu halten schien ein hoffnungsloses Unterfangen. Und es stand ihnen noch die ganze Nacht bevor. Einen Augenblick lang war es still. Man hörte nur, wie der Hagel auf das Blechdach trommelte und das Wasser scheppernd in die überall im Raum aufgestellten Blechschüsseln tropfte. Tomás hatte einen Kloß im Hals.
»Sie müssen entschuldigen«, platzte Enzo in die Stille. »Der Junge weiß ja nicht, was er sagt.«
»Er sagt die Wahrheit«, erwiderte Cumín und wandte sich dem Deutschen zu, der sich erkundigte, ob es denn in der Gegend Arbeit gebe.
Cumín trat an die Haustür und stieß sie auf. Hinter der dichten Regenwand war die Straße, über die sie gekommen waren, kaum zu erahnen.
»Das hier ist unsere Arbeit«, sagte Cumín, nachdem er ein Hagelkorn vom Boden aufgehoben und sich wie ein Lutschbonbon in den Mund gesteckt hatte. »Wir bauen die Straße, die die Besiedlung Patagoniens vorantreiben wird …«
…
die Besiedlung mit Leuten wie euch
, dachte José.
Merkwürdigerweise waren seine Gedanken ganz deutlich für alle vernehmbar. Cumín und seine Familie hatten so etwas schon häufiger erlebt. Erst hatte es sie befremdet, aber dann nahmen sie es wie selbstverständlich hin, und schließlich war eine Art Spiel daraus geworden. Sie hatten eine Theorie entwickelt: Die Stille in diesem Winkel der Erde war so groß, dass manchmal, vor allem an windlosen Tagen, alles zu hören war, sogar Unausgesprochenes.
»Und macht ihr auch mal Urlaub?«, wollte Enzo wissen.
»Urlaub?«
»Habt ihr auch mal einen Tag frei?«
»Wenn der Bus nicht kommt, der uns abholt … Manchmal kommt er vierzehn Tage lang ohne Unterbrechung, dann kommt er wieder eine ganze Woche gar nicht. Alles hängt davon ab, was der Steinbruch liefert.«
»Und was macht ihr, wenn die Straße fertig ist?«, fragte Lilith und traf damit den wunden Punkt.
»Es wird immer Straßen geben, die noch befestigt werden müssen.«
»Dann zieht ihr also von einem Ort zum anderen?«, bohrte sie weiter.
»Wenn’s nicht anders geht, schon.«
Cumín sah ihr in die Augen, er sprach mit ihr wie mit einer Erwachsenen. In Liliths Worten lag keine Spur von Spott.
»Das war das Angebot: Land und Arbeit. Dass auf dem Land kein Flecken Schatten zu finden ist und es sich um Sklavenarbeit handelt, hat uns niemand gesagt. Es ist aber besser als nichts. Außerdem beruht der Fortschritt der Welt seit den Römern auf Sklavenarbeit, oder etwa nicht?«
Die Frage galt dem Fremden, der es jetzt nicht mehr wagte, Cumín in die Augen zu sehen. Er hielt den Blick starr auf den Erdboden gerichtet. Wären sie sich zu anderen Zeiten begegnet, hätte er dafür gesorgt, dass ihn diese Augen nicht mehr anblicken konnten. Solche Typen wie Cumín wurde man am besten so schnell wie möglich wieder los.
4
»So«, sagte Yanka.
Sie schmierte noch etwas von der Klebemasse in Herlitzkas hohlen Fuß. Die letzte halbe Stunde hatte sie
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