Waldstadt
Lindt hatte sich eher eine Vor-Ort-Diskussion ausgemalt, doch Eschenberg verrichtete seine Arbeit ganz im Stillen.
»Sie müssen verstehen«, sagte er schließlich, nachdem er auch den zweiten Tatort über eine Stunde lang mit der Akte der KTU in der Hand intensiv betrachtet hatte, »ich bin nicht der, der die Faserspuren findet.« Er zeigte in Willms’ Bericht. »Oder Glaskrümel vom Fahrradscheinwerfer, das kann die Spurensicherung viel besser. Nein, für mich ist entscheidend, weshalb ein Täter sich genau so und nicht anders verhalten hat.«
Der Blick, den Wellmann Lindt zuwarf, hieß ganz klar: ›Das haben wir bisher auch immer gemacht.‹
Eschenberg bemerkte den Augenkontakt sofort: »Sie werden sich diese Fragen ganz gewiss auch schon gestellt haben, aber können Sie mir zum Beispiel sagen, warum die erste Leiche viel tiefer im Unterholz lag als die zweite? Warum ließ er seine Opfer nicht gleich hier neben der Allee liegen? Tot waren sie sicherlich sehr schnell.« Er zeigte auf die Fotos der Gerichtsmedizin, wo die Spuren der Garotte rings um den Hals überdeutlich zu sehen waren.
»Hm«, blickten sich die beiden Kollegen an. »Ins Dickicht schleppte er sie natürlich, um einen Vorsprung zu bekommen, damit seine Tat nicht gleich entdeckt wird«, antwortete Wellmann.
»Aber, dass die Leichen unterschiedlich gut versteckt waren, das haben wir für Zufall gehalten«, vervollständigte Oskar Lindt.
»Kann sein, klar, muss aber nicht, kann auch begründet sein. Oder warum der Student auf dem Bauch lag, der Mofafahrer aber auf dem Rücken. Wenn er sie rückwärts in den Wald hineingeschleift hat und einfach nur fallen ließ, müssten ja beide in Rückenlage gefunden worden sein.«
Wellmann dachte praktisch: »Bringt uns das weiter, was den Personenkreis möglicher Täter anbelangt? Bis jetzt nehmen wir ja nur an, dass es ein recht kräftiger Mann getan haben kann.«
»Da gehe ich mit Ihnen d’accord«, stimmte der hochgewachsene Wissenschaftler zu, »aber welche Bedeutung die anderen Beobachtungen haben, dazu kann ich momentan auch noch nichts Abschließendes sagen.«
Er lehnte sich an den Stamm der Birke, die am Rand der Fahrbahn stand, und setzte die Betrachtung des Tatorts fort. »Wissen wir denn auf den Meter genau, wo die Tat geschah?«
»Hier an der Friedrichstaler Allee, wo Schallenbach ermordet wurde, können wir das nicht sicher sagen. Spuren im Sandboden, die ein fallendes Mofa hinterlassen könnte, haben wir zwar gefunden«, er zeigte vor den Psychologen auf die Erde, »aber ein paar Meter weiter gibt es genau solche Rillen und Verdrückungen. Kann von gelagertem Holz stammen, vielleicht hat ein Hund dort gebuddelt oder ein Kaninchen gescharrt, kurzum, sichere Spuren gibt es keine.«
»Auf dem Boden nicht, aber vielleicht hier!« Triumphierend zeigte Paul Wellmann auf die weiße Rinde der Birke, an die sich Eschenberg angelehnt hatte. Der Psychologe trat einen Schritt zurück, Lindt beugte sich vor: »Meinst du das hier?«
Eine waagerechte, dunkle Rille zog sich durch die Rinde, knapp einen Meter über dem Boden. Wenige Millimeter tief eingedrückt konnte sie nur dann auffallen, wenn man aus einiger Entfernung schaute.
»Da hat jemand einen Strich hingemacht, war mein erster Gedanke«, meinte Wellmann, »doch dann ...« Er strich über die Rille. »Eine deutliche Vertiefung!«
»Wovon könnte das sein?«, überlegte Lindt und lenkte automatisch den Blick zur gegenüberliegenden Seite der Allee.
Eine jüngere Roteiche, kaum so dick wie ein Wassereimer, erregte seine Aufmerksamkeit. »Sieht so aus, als ob auch hier …«
Tatsächlich gab es im zweiten Baum eine ähnliche Rille. Gleiche Höhe, nicht sehr tief und irgendwie dunkel gefärbt.
»Hätten Sie vielleicht eine Erklärung dafür?« Lindt schaute auffordernd zu Eschenberg, doch der musste passen.
»Ich bin mehr spezialisiert auf die Frage, wie es in einem Täter aussieht. Was auch immer sich außen an diesen Bäumen abgezeichnet hat, das herauszufinden überlasse ich lieber den erfahrenen Praktikern.«
»Auf jeden Fall muss die Spurensicherung noch mal hierher. Schade, dass der Ludwig heute krank ist«, grinste Lindt und zog sein Handy aus der Tasche.
Es wunderte ihn kaum, als nach einer knappen Viertelstunde ein hellgrauer Kastenwagen angefahren kam und gleich dahinter Willms in seinem Dienst-Passat.
»Waldluft vertreibt meine Migräne bestimmt«, gab der kurz angebunden von sich.
Die Welt des KTU-Chefs Ludwig Willms war
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