Waldstadt
Fußstreife, der direkte Kontakt mit ›seinen‹ Bürgern war ihm das Wichtigste.
Selbst Lindt musste oft genug staunen, wen der Kollege alles kannte.
»Oskar, du weißt, ich schwätz mit de Leut und manchmal hör ich sogar ’s Gras wachsen. Ich kenn in meinem Bezirk grad genug Spitzbuben mit Vornamen, aber ich bin mir sicher, von denen wars keiner!«
»Bei deinen Kleinganoven brauchen wir sicher nicht suchen, das nehme ich dir ab, aber vielleicht …«
»Oskar, komm mit«, schnitt ihm Holzberger das Wort ab. »Überall hab ich schon rumgefragt, keiner wusste was, aber zu einem wollt ich noch!«
Lindt schob sein Rad neben den beiden Streifenpolizisten über die Brücke und weiter bis zu einer schmalen Nebenstraße, wo Rudi vor der unscheinbaren Filiale eines Schlüsseldienstes stehen blieb.
»Der Paolo ist ein Universaltalent. Den hol ich regelmäßig, wenn wir eine Wohnung aufmachen müssen. Er lässt sich zwar nie auf die Finger schauen, aber ruck-zuck ist die Tür offen.«
»Nutzt er seine Fähigkeiten nur legal?«, wollte die Polizistin wissen.
Holzberger grinste und zuckte mit den Schultern: »Jedenfalls hat er sich schon ganz lange nicht mehr erwischen lassen. Und er tut auch gut daran, denn du, Oskar, müsstest ihn eigentlich kennen.«
Lindt warf einen prüfenden Blick durch das Schaufenster. Er sah in einen tiefer liegenden Raum. Ein schmaler grauhaariger Mann mit gewaltigem aufgedrehtem Schnauzbart bediente gerade einen Fräsautomaten.
»Moment mal,« grübelte der Kommissar, »woher kommt mir der denn bekannt vor?«
»Denk dir den Schnauzer weg, die Haare schwarz und ihn auch ganz in Schwarz. Na?« Prüfend schaute Holzberger seinen Kollegen an.
Endlich zündete es bei Lindt. »Mensch, die schwarz Katz, ha, den hab ich doch damals, nein, nein, nicht ich, den hattest du, Rudi, schon in Handschellen, bis wir kamen.«
Holzberger beugte sich zu seiner jungen Kollegin hinunter: »Der war eine richtige ›Einbrecher-Legende‹, damals, vor über 30 Jahren. Vor dem war kein Schloss sicher und an den Dachrinnen ging er hoch wie eine Katz.«
»Immer in Schwarz gekleidet«, fuhr Lindt fort, »aber ein Mal lief es nicht so gut für ihn.«
»Wurde er überrascht?«
»Genau, das war in der Waldstadt draußen. Der Hausbesitzer hatte was gehört und gleich seinen Waffenschrank geöffnet. Dann hielt er ihn in Schach, Schrotflinte im Anschlag. Als er sich aber nach dem Telefon bückte, um bei uns anzurufen, da hat dieser Italiener wohl einen Briefbeschwerer zu fassen gekriegt und damit zugeschlagen.«
»Der Mann war bewusstlos und starb nach vier Wochen«, klärte Holzberger seine Kollegin auf. »Paolo wurde verurteilt, Totschlag, sieben Jahre. Seither ist er absolut sauber.«
»Und wie …?«
»Er saß neben dem Hausbesitzer weinend auf dem Boden. Wie ein Häufchen Elend.«
»›Einbrecher, kein Mörder‹, das hat er wieder und wieder ganz apathisch vor sich hingejammert«, konnte sich auch Lindt noch erinnern. »Damals sprach er nur sehr wenig Deutsch.«
»Das ist heute ganz anders«, öffnete Rudolf Holzberger die Ladentür. Er zog wegen seiner Zweimeterdrei den Kopf etwas ein und stieg die vier Stufen hinunter in den engen kleinen Laden.
Der Mann in der blauen Schürze lächelte erst, doch als er Lindt sah, erbleichte er schlagartig.
»Paolo, das ist …« Weiter kam Holzberger nicht.
»Ich kenne ihn noch«, flüsterte der Italiener tonlos. »Jeder kennt den Commissario con la pipa.«
»Damals«, nickte Lindt, »aber das ist lange her. Sie haben Ihre Strafe abgesessen.«
»Deine Sache ist erledigt, keine Sorge, wir möchten nur gerne wissen, ob du was gehört hast.« Rudi Holzberger trat hinter den Ladentisch und legte auch dem schmächtigen Italiener seine schaufelartige Pranke auf die Schulter. Es sah so aus, als hätte er ihn genauso gut freischwebend emporheben können.
Paolo wusste sofort Bescheid. »Da im Wald? Gleich zwei Mal? Alle sprechen nur noch davon, aber kennen tut den keiner! Alle sagen, das muss ein Verrückter sein, ein Kranker, ein gefährlich Gestörter, der die Leute nachts vom Fahrrad zieht und sie dann umbringt. Wirklich, ehrlich, großes Ehrenwort, ihr müsst mir glauben, gar, gar niemand weiß was drüber.«
Oskar Lindt zündete seine ausgegangene Pfeife zum dritten Mal wieder an. Er sah dem Italiener genau in die Augen: »Schwarz! Er war schwarz gekleidet, ganz in Schwarz!«
Die Farbe wich aus seinem Gesicht, er sank auf den Hocker hinter der Theke. »Madonna!«
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