Waldstadt
wie ein Donnerschlag. Morgen sollte der erste Schultag sein und es grauste ihm bereits wieder, von einer Horde pubertierender Neuntklässler zum Narren gehalten und veräppelt zu werden. So hatte er sich pädagogische Arbeit nicht vorgestellt. Er sehnte sich danach, von seinen Schülern anerkannt zu werden. Sie sollten ihn achten, sein Wissen bewundern und zu ihm aufschauen. Eingetroffen war aber das genaue Gegenteil und mit jedem Schuljahr trieben sie es schlimmer.
Es gab Lehrer, die ihre Klassen anscheinend fest im Griff hatten, aber als er einmal versuchte, mit einer älteren Kollegin über seine Probleme zu sprechen, bekam er nur ein paar kurze Worte von wegen ›natürliche Autorität – das kommt von innen – der eine hats, der andere eben nicht‹ zu hören. Seit diesem Gespräch verstärkte sich sein Gefühl, dass auch im Lehrerzimmer mehr oder weniger offen über ihn getuschelt wurde.
Jetzt auch noch das! Ein Trittbrettfahrer, der sich mit seinen Taten schmücken wollte, seine Meisterwerke für sich reklamierte und damit prahlte. Wie ein Tiger im Käfig ging er in seiner engen Dachwohnung auf und ab.
Ungeheuerlich, was da geschah – und diese Zeitungsfritzen machten auch noch mit, stürzten sich darauf, aus purer Sensationslust. Er hielt schon den Telefonhörer in der Hand, doch schnell legte er wieder auf. Nein, mit einem Anruf konnte er nicht richtigstellen, dass er der wahre, der echte, der einzige …
Er stutzte, horchte, drehte lauter, schon wieder eine Meldung im Radio, diesmal ein Kommentar. »Warum versagt unsere Polizei?« Ein Journalist mit durchdringend blecherner Stimme kommentierte die improvisierte Pressekonferenz in der BNN-Redaktion.
Er sparte nicht mit beißendem Spott: »Der schwergewichtige Leiter der Sonderkommission ›Waldstadt‹ schien sehr unter der Sommerhitze zu leiden. Vielleicht war es auch der Angstschweiß, den er immer wieder von seiner Stirn wischen musste. Der Auftritt von Hauptkommissar Lindt war die Bankrotterklärung der Karlsruher Polizeiarbeit, der Offenbarungseid seines angeblichen kriminalistischen Spürsinns, das Eingeständnis des totalen Versagens! Monatelange Ermittlungen ohne jeglichen Erfolg – wie lange soll das noch so weitergehen? Ein Vierfachmörder zeigt den Ermittlern ganz öffentlich eine lange Nase. Wann zieht die Polizeipräsidentin endlich personelle Konsequenzen?«
Er konnte mitfühlen, mitleiden. Da war einer, dem es auch nicht besser ging als ihm bei seinen Schülern.
Ein Wahnsinnsgedanke ging ihm durch den Kopf. Er könnte einfach zwei Treppen nach unten gehen, klingeln und alles gestehen. In diese verhasste Schule, vor der er nun sechs Wochen lang das Weite gesucht hatte, müsste er dann auch nicht mehr, nie mehr.
Schnell fegte er diese Überlegung aber wieder beiseite. Er würde sich einfach krankmelden, morgen früh, dann blieben ihm die üblen Schulstunden vorerst auch erspart. Dass er mit dem Tod seiner Mutter nicht klarkam, müsste jeden Arzt überzeugen. Vielleicht wäre er sogar dauerhaft dienstunfähig. Diese Aussicht schien ihm zuerst verlockend, aber was dann?
Sein Blick ging zum Schreibtisch. Sein Werkzeug hing wieder über der Lampe, so, dass er es immer im Blick hatte. Vier lackierte Ringe an den Hölzchen leuchteten ihm glänzend entgegen. Drei fehlten noch, um sein Werk zu vollenden.
Insgeheim wunderte er sich, dass er mit dem Kommissar gerade eben noch Mitleid gehabt hatte. Der würde für ihn bestimmt kein Mitgefühl aufbringen, nein, ausgeschlossen. Seine ganze Arbeit bestand im Moment darin, ihn, der schon vier Mal die Schlinge zugezogen hatte, endlich zur Strecke zu bringen.
Doch er war noch lange nicht fertig.
9
Die Zeitungsverkäufer in Karlsruhe konnten sich nicht erinnern, jemals in so kurzer Zeit so viele Exemplare der BNN verkauft zu haben. Vor den Kiosken bildeten sich lange Schlangen. An Haltestellen und in Straßenbahnen, später auf Büroschreibtischen und Werkbänken, neben Kaffeetassen, Honigbrötchen und in städtischen Grünanlagen, überall wurden die Blätter entfaltet. Alle lasen die erste Lokalseite. Ein Bild des altehrwürdigen Polizeipräsidiums nahm breiten Raum ein, darunter ein Foto der schnurgeraden Stutenseer Allee.
»Der hat sich ganz schön ins Zeug gelegt«, kommentierte Jan Sternberg den Text.
»Echt findig, dieser Redakteur«, lobte auch Paul Wellmann. »Wenn man bedenkt, was der aus unseren spärlichen Infos gemacht hat.«
Auch Oskar Lindt war zufrieden. »Der Chefredakteur
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