Wall Street Blues
sprechen, aber ich wußte nicht, wie.« Ihr Tonfall war unverfälschter Bronx.
»Hören Sie schon auf«, sagte Wetzon erschöpft. Alle sahen sie neugierig an, schoben sich an ihnen vorbei, paßten auf. Sie legte ihren Arm um die überraschend muskulösen Schultern des schluchzenden Mädchens. »Gleich um die Ecke ist das Café La Fortuna. Setzen wir uns doch dort hin, und Sie können mit mir reden.«
Das Mädchen zog geräuschvoll die Nase hoch, holte aus einer winzigen grellrosa Umhängetasche ein gelbes Kleenex und schneuzte die Nase. Sie setzten sich an einen Tisch im Freien. Wetzon war verlegen, weil sie wegen nichts einen Berg aus Angst aufgetürmt hatte. Und jetzt kam sie sich gemein vor, fast tyrannisch. »Haben Sie Lust auf einen Cappuccino?« fragte der gemeine Tyrann.
Das Mädchen nickte. Die Tränen hatten den Lidschatten und schwarzen Eyeliner verschmiert und ungleichmäßig über das Gesicht verteilt. Sie sah wie ein kleines Mädchen aus, das das Make-up seiner Mutter ausprobiert und es vermasselt hatte.
Wetzon bestellte zwei Cappuccino und sagte zu dem Mädchen: »Sie kennen mich?«
Das Mädchen schniefte. »Sie sind Wetzon.«
»Okay. Kenne ich Sie?«
Das Mädchen kramte in der rosa Umhängetasche nach einem frischen Kleenex, schluckte und bekam Schluckauf, während die Tränen wiederkamen. Ein dunkelroter Kamm rutschte aus seinem Haar und fiel vor seine Stiefel.
Wetzon holte ein Päckchen Papiertaschentücher aus ihrer Handtasche und gab es dem Mädchen.
»Es tut mir wirklich leid«, murmelte das Mädchen, während es sein Gesicht abwischte.
»Wer sind Sie?«
Der Kellner stellte zwei mit Zimt bestäubte, schaumige Cappuccino vor sie und entfernte sich diskret.
»Ich heiße Ann Buffolino.«
»Ann Buffolino?« Der Name sagte Wetzon nichts. Dann flackerte ein Fünkchen Licht durch ihren Kopf. »Moment mal. Sind Sie Buffie?« fragte sie und wußte die Antwort, bevor sie kam.
B arry und ich wollten heiraten.« Ann Buffolinos hellbraune Augen füllten sich mit Wasser, und Tränen rollten über ihre rot geschminkten Wangen.
»Ich weiß.« Als Antwort auf die Frage auf Buffies bleichem Gesicht fügte Wetzon hinzu. »Georgie hat es mir erzählt.«
»Ach, Sie kennen Georgie.« Es war eher eine Feststellung als eine Frage.
»Nur ganz flüchtig.« Besser als ihr lieb war.
»Wir sind alle zusammen in die Schule gegangen.« Buffie schien die zusammengeknüllten feuchten Kleenextücher zu betrachten, die neben dem nicht angerührten Cappuccino lagen. Eine dicke Träne rollte über ihre Nase und blieb unbeachtet an der Spitze hängen. »Wir waren unzertrennlich. Alle für einen, einer für alle. Wie Die drei Musketiere- wir lieben diese alten Filme.«
»Ohne D’Artagnan?« fragte Wetzon. Buffie würde wahrscheinlich die Anspielung nicht verstehen.
Doch Buffie überraschte sie. »Barry war D’Artagnan.« Sie wischte mit dem Handrücken die Träne von der Nase. »Er sieht so gut aus. Ich meine, sah, oder? Ich kann nicht glauben, daß er tot ist.« Sie preßte die Hände aufs Gesicht und rieb die verquollenen Augen. Sie sah wie ein gekränktes Kind aus.
Wetzon tätschelte mitfühlend ihre Schulter und bemerkte zugleich, wie groß Buffies Hände für so eine zierliche Person waren. An den Fingern steckten keine Ringe; der glänzende rosa Lack auf den langen ovalen Fingernägeln war rissig. »Es tut mir so leid. Haben Sie Familie? Sie sollten jetzt wirklich nicht allein sein.«
Buffie schluckte und rülpste leise. Sie leckte den Cappuccinoschaum von den Lippen. »Ich habe meine Arbeit«, sagte sie. Ihre baumelnden Ohrringe schaukelten hin und her, wenn sie den Kopf bewegte. »Das ist gut. Und die Jungs sind so nett zu mir gewesen — besonders Georgie.«
»Was arbeiten Sie denn?« Etwas Warmes, Lebendiges berührte Wetzons Bein. Erschrocken schaute sie nach unten und sah eine große orange gestreifte Katze, die laut schnurrte und sich an ihr rieb. Wetzon nieste. Sie war allergisch gegen Katzen. »Was für ein schönes Tier«, sagte Buffie und hob die Katze hoch, um sie zu streicheln. »Ich unterrichte Aerobics bei Body Beauty in der 79. Street.« Sie schwieg, den Blick erwartungsvoll auf Wetzon.
»Warum wollten Sie mich sprechen?« Wetzon hätte Barry nie mit Ann Buffolino in Verbindung gebracht — in tausend Jahren nicht. Das Mädchen war merkwürdig, verrückt, aber vielleicht kam das daher, daß sie immer noch unter dem Schock stand. Sie fragte sich, ob Barry sie wirklich geheiratet hätte.
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