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Wallander 06 - Die fünfte Frau

Wallander 06 - Die fünfte Frau

Titel: Wallander 06 - Die fünfte Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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sie vorsichtig herausziehen konnte. Bevor sie ihn in den Backofen legte, hatte sie einen starken Lautsprecher hineingestellt und die Röhre verschlossen. Sie hatte Musik in voller Lautstärke gespielt, aber nichts war herausgedrungen. Sie beugte sich vor, so daß sie ihn sehen konnte. Als sie eins seiner Beine berührte, bewegte er sich nicht. Einen Moment lang befürchtete sie, er könne gestorben sein. Dann hörte sie, wie er keuchte.
Er ist schwach
, dachte sie.
Bald ist die Wartezeit vorüber.
    Sie gab ihm sein Essen, ließ ihn das Loch benutzen, zerrte ihn wieder an seinen Platz und schob die Luke vor. Dann wusch sie ab, räumte die Küche auf und setzte sich an den Tisch und trank eine Tasse Kaffee. Sie holte ihre Personalzeitung aus der Tasche und blätterte sie langsam durch. Nach der neuen Lohntabelle würde sie rückwirkend vom 1.   Juli an 174   Kronen im Monat mehr bekommen. Sie schaute wieder auf die Uhr. Es vergingen selten zehn Minuten, ohne daß sie einen Blick darauf warf. Die Uhr war ein Teil ihrer Identität. Ihr Leben und ihre Arbeit wurden von sorgfältig ausgearbeiteten Fahrplänen zusammengehalten. Nichts schmerzte sie mehr, als wenn die Fahrpläne nicht eingehalten werden konnten. Da halfen keine Erklärungen. Sie empfand es jedesmal als ihre persönliche Verantwortung. Sie wußte, daß mehrere ihrer Kollegen hinter ihrem Rücken über sie lachten. Das schmerzte sie. Aber sie sagte nie etwas. Das Schweigen war auch ein Teil von ihr. Teil ihres inneren Uhrwerks. Auch wenn es nicht immer so gewesen war.
     
    Sie konnte sich an ihre eigene Stimme erinnern. Als sie Kind war. Die Stimme war kräftig. Aber nicht schneidend. Die Stummheit war danach gekommen. Als sie all das Blut gesehen hatte. Und ihre Mutter, die beinahe gestorben wäre. Damals hatte sie nicht geschrien. Sie hatte sich in ihrem Schweigen versteckt. Darin konnte sie sich unsichtbar machen.
    |66|
Da war es passiert. Als ihre Mutter weinend und blutend auf einem Tisch lag und ihr die Schwester wegnahm, auf die sie so lange gewartet hatte.
     
    Wieder blickte sie auf die Uhr. Bald würden sie kommen. Es war Mittwoch, der Abend, an dem sie sich trafen. Am liebsten hätte sie es immer mittwochs. Das gäbe eine größere Regelmäßigkeit. Aber ihre Arbeitszeiten ließen es nicht zu. Sie wußte auch, daß sie daran nie etwas ändern könnte.
    Sie hatte fünf Stühle bereitgestellt. Sie wollte nicht, daß sich mehr als fünf gleichzeitig bei ihr versammelten. Dabei könnte die Nähe verlorengehen. Es war schon schwer genug, so große Vertraulichkeit zu schaffen, daß diese schweigenden Frauen redeten. Sie ging ins Schlafzimmer und zog ihre Uniform aus. Bei jedem Kleidungsstück, das sie ablegte, murmelte sie ein Gebet. Und sie erinnerte sich. Es war ihre Mutter, die ihr von Antonio erzählt hatte. Von dem Mann, den sie einmal in ihrer Jugend, lange vor dem Zweiten Weltkrieg, in einem Zug zwischen Köln und München getroffen hatte. Sie hatten keine Sitzplätze bekommen und waren draußen im verräucherten Gang durch Zufall zusammengedrängt worden. Die Lichter der Schiffe auf dem Rhein waren vor den schmutzigen Zugfenstern vorbeigeglitten, es war in der Nacht, und Antonio hatte erzählt, daß er Priester der katholischen Kirche werden wolle. Er hatte erzählt, daß die Messe begann, wenn der Priester die Kleider wechselte. Das heilige Ritual hatte eine Einleitung, die bedeutete, daß die Priester sich einer Reinigungsprozedur unterzogen. Für jedes Kleidungsstück, das sie ablegten oder anlegten, hatten sie ein Gebet. Mit jedem Kleidungsstück kamen sie ihrem heiligen Auftrag einen Schritt näher.
    Sie hatte die Erinnerung ihrer Mutter an die Begegnung mit Antonio im Gang des Zuges nie vergessen können. Und jetzt hatte sie eingesehen, daß auch sie eine Priesterin war, ein Mensch, der sich selbst die große Aufgabe gestellt hatte, zu verkünden, daß die Gerechtigkeit heilig war. Jetzt war auch für sie das Wechseln der Kleidung zu einem Ritual geworden. Doch die Gebete, die sie sprach, waren kein Zwiegespräch mit Gott. In einer chaotischen und aberwitzigen Welt war Gott am aberwitzigsten von allem. Die |67| Welt trug das Zeichen eines abwesenden Gottes. Die Gebete richteten sich an sie selbst. An das Kind, das sie einmal gewesen war. Bevor alles für sie zusammenbrach. Bevor ihre Mutter sie dessen beraubte, was sie sich so sehnlich gewünscht hatte. Bevor sich die finsteren Männer mit den Blicken sich windender, bedrohlicher

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