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Wallander 06 - Die fünfte Frau

Wallander 06 - Die fünfte Frau

Titel: Wallander 06 - Die fünfte Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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Schlangen vor ihr auftürmten.
    Während sie sich umzog, versetzte sie sich betend in ihre Kindheit zurück. Die Uniform legte sie aufs Bett. Dann kleidete sie sich in weiche Stoffe mit milden Farben. Eine Veränderung ging in ihr vor. Es war, als verwandle sich ihre Haut, als kehre auch sie zurück und werde ein Teil des Kindes.
    Zuletzt setzte sie die Perücke und die Brille auf. Das letzte Gebet verklang in ihr.
Hoppe, hoppe Reiter, wenn er fällt, dann schreit er, schreit er, schreit er   …
    Sie hörte den ersten Wagen auf den Hof einfahren und bremsen. Sie betrachtete ihr Gesicht in dem großen Spiegel.
Es war nicht Dornröschen, das aus seinem Alptraum erwacht war. Es war Aschenputtel.
    Sie war bereit. Jetzt war sie eine andere. Sie legte die Uniform in eine Plastiktüte, glättete den Bettüberwurf und verließ das Zimmer. Obwohl niemand außer ihr selbst dorthin kommen würde, schloß sie die Tür ab und betätigte zur Sicherheit noch einmal die Klinke.
     
    Kurz vor sechs waren sie versammelt, aber eine der Frauen war nicht gekommen. Es hieß, sie sei am Abend zuvor ins Krankenhaus gegangen, da die Wehen eingesetzt hätten. Es war zwei Wochen vor der Zeit. Aber das Kind war vielleicht schon geboren.
    Sie beschloß sogleich, sie am folgenden Tag im Krankenhaus zu besuchen. Sie wollte sie sehen. Sie wollte ihr Gesicht sehen nach allem, was sie durchgemacht hatte.
    Dann lauschte sie ihren Geschichten. Ab und an machte sie eine Bewegung, als schriebe sie etwas auf den Notizblock, den sie in der Hand hielt. Doch sie schrieb nur Ziffern. Sie entwarf ständig Fahrpläne. Ziffern, Uhrzeiten, Entfernungen. Es war ein Spiel, das sie nicht losließ, ein Spiel, das immer mehr zu einer Beschwörung wurde. Sie brauchte nichts zu notieren, um sich erinnern zu können. |68| Alle Worte, die die verschreckten Stimmen aussprachen, all das Leid, dem sie jetzt Ausdruck zu geben wagten, gruben sich in ihr Bewußtsein ein. Sie spürte, wie sich bei jeder von ihnen etwas löste. Vielleicht nur für den Augenblick. Aber was war das Leben anderes als eine Folge von Augenblicken?
Wieder der Fahrplan. Uhrzeiten, die sich begegneten, einander ablösten. Das Leben war wie ein Pendel. Es schlug aus zwischen Schmerz und Linderung. Ohne Unterbrechung, ohne Ende.
    Sie saß so, daß sie den großen Backofen hinter den Frauen sehen konnte. Das Licht war gedämpft. Der Raum ruhte in einem sanften Dunkel. Sie stellte sich das Licht als weiblich vor. Der Ofen war wie eine Klippe, unbeweglich, mitten in einem öden Meer.
     
    Sie sprachen ein paar Stunden lang. Hinterher tranken sie in der Küche Tee. Alle wußten, wann sie sich das nächste Mal treffen würden. Keine brauchte an den Zeiten zu zweifeln, die sie ihnen gab.
    Um halb neun begleitete sie die Frauen nach draußen. Sie gab ihnen die Hand, nahm ihre Dankbarkeit entgegen. Als der letzte Wagen verschwunden war, ging sie ins Haus zurück. Im Schlafzimmer wechselte sie die Kleidung, nahm die Perücke und die Brille ab. Sie ergriff die Plastiktüte mit der Uniform und verließ das Zimmer. In der Küche wusch sie die Teetassen ab. Dann löschte sie alle Lichter und nahm ihre Handtasche.
    Einen kurzen Augenblick stand sie reglos im Dunkeln neben dem Backofen. Alles war sehr still.
    Dann verließ sie das Haus. Es nieselte. Sie setzte sich ins Auto und fuhr nach Ystad.
    Vor Mitternacht lag sie in ihrem Bett und schlief.

|69| 5
    Als Wallander am Donnerstag morgen erwachte, fühlte er sich ausgeruht. Die Magenbeschwerden waren abgeklungen. Er stand kurz nach sechs auf; das Thermometer vor dem Küchenfenster zeigte plus fünf Grad an. Schwere Wolken bedeckten den Himmel. Die Straßen waren naß, aber es regnete nicht. Kurz nach sieben war er im Präsidium. Noch herrschte morgendliche Stille. Als er durch den Korridor zu seinem Zimmer ging, fragte er sich, ob man wohl Holger Eriksson gefunden hatte. Er hängte die Jacke fort und setzte sich. Auf seinem Tisch lagen ein paar Zettel mit Notizen über eingegangene Telefonate. Ebba erinnerte ihn an seinen Termin beim Optiker, den er vergessen hatte. Aber es war ein wichtiger Termin, denn er brauchte eine Lesebrille. Wenn er lange über seine Papiere gebeugt saß, bekam er Kopfschmerzen, und die Buchstaben verschwammen und begannen zu tanzen. Er war bald siebenundvierzig. Das Alter forderte seinen Tribut. Auf einem anderen Zettel stand, daß Per Åkesson ihn sprechen wolle. Da Åkesson ein Morgenmensch war, rief er ihn sogleich in der

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