Wallander 06 - Die fünfte Frau
in der Nacht vom 30. September zum 1. Oktober auf der Entbindungsstation des Krankenhauses in Ystad Dienst hatten. Ihre Kollegin Lena Söderström war in einem Zimmer bei einer Frau, deren Preßwehen eingesetzt hatten. Es war bisher eine arbeitsreiche Nacht gewesen, ohne Dramatik, aber mit einem ständigen Strom von Aufgaben, die erledigt werden mußten.
Sie waren unterbesetzt. Zwei Hebammen und zwei Schwestern sollten die ganze Nachtarbeit schaffen. Im Hintergrund war noch ein Arzt in Bereitschaft, den sie rufen konnten, wenn es zu ernsthaften Blutungen oder anderen Komplikationen kam. Aber es war schon schlimmer gewesen, dachte Ylva Brink. Vor einigen Jahren war sie in den langen Nächten die einzige Hebamme gewesen. Das hatte verschiedentlich zu schwierigen Situationen geführt, denn ständig hätte sie an zwei Stellen gleichzeitig sein müssen. Schließlich hatte sie durchgesetzt, daß nachts immer mindestens zwei Hebammen Dienst taten.
Das Schwesternzimmer, in dem sie sich befand, lag mitten in der großen Station. Durch die Glaswände konnte sie sehen, was außerhalb des Zimmers vor sich ging. Am Tag war in den Korridoren reger Betrieb, aber jetzt in der Nacht war alles anders. Sie arbeitete gern nachts. Viele ihrer Kolleginnen wollten sich am liebsten davor drücken. Sie hatten Familie und bekamen tagsüber nicht genügend Schlaf. Ylva Brink, deren Kinder erwachsen waren und deren Mann Erster Maschinist auf einem Öltanker war, der im Charterverkehr zwischen Häfen im Mittleren Osten und Asien fuhr, fand es im Gegenteil beruhigend zu arbeiten, wenn andere schliefen.
Sie trank genüßlich ihren Kaffee und nahm ein Stück Mürbekuchen |106| von einem Teller auf dem Tisch. Eine der Schwestern trat herein und setzte sich, kurz danach kam auch die zweite. In einer Ecke spielte leise ein Radio. Sie fingen an, über den Herbst zu reden, den ewigen Regen. Eine der Schwestern hatte von ihrer Mutter, die das Wetter vorhersagen konnte, gehört, daß ein langer und kalter Winter bevorstand. Ylva Brink dachte daran, wie es war, wenn Schonen eingeschneit war. Das geschah nicht oft. Aber wenn es geschah, entstanden für Frauen, die entbinden sollten, aber nicht zum Krankenhaus gelangen konnten, dramatische Situationen. Einmal hatte sie frierend auf einem eiskalten Traktor gesessen, der sich durch Schneetreiben und Schneewehen zu einem abseits gelegenen Hof nördlich von Ystad durchgekämpft hatte. Die Frau hatte starke Blutungen. Das war das einzige Mal in all ihren Jahren als Hebamme, daß sie wirklich Angst hatte, eine Mutter könnte sterben. So etwas durfte nicht passieren. Schweden war ein Land, in dem Frauen, die Kinder bekamen, ganz einfach nicht starben.
Aber noch war Herbst. Die Zeit der Vogelbeeren. Ylva Brink, die aus dem Norden des Landes kam, vermißte manchmal die melancholischen norrländischen Wälder. Sie hatte sich nie daran gewöhnt, in der schonischen Landschaft zu leben, wo der Wind uneingeschränkt herrschte. Aber ihr Mann war der stärkere von ihnen gewesen. Er war in Trelleborg geboren und konnte sich nichts anderes vorstellen, als in Schonen zu leben. Wenn er ab und zu einmal zu Hause war.
Sie wurde in ihren Gedanken unterbrochen, als Lena Söderström ins Zimmer kam. Sie war gut dreißig Jahre alt. Sie könnte meine Tochter sein, hatte Ylva gedacht. Ich bin genau doppelt so alt, zweiundsechzig.
»Das Kind kommt wohl nicht vor morgen früh«, sagte Lena Söderström. »Bis dahin sind wir zu Hause.«
»Es wird eine ruhige Nacht«, sagte Ylva. »Schlaf ein bißchen, wenn du müde bist.«
Die Nächte konnten lang werden. Eine Viertelstunde, vielleicht eine halbe zu schlafen machte viel aus. Die akute Müdigkeit verschwand. Aber Ylva schlief nie während der Dienstzeit. Seit sie fünfundfünfzig war, hatte sich ihr Schlafbedürfnis nach und nach |107| verringert. Sie hatte das als eine Mahnung aufgefaßt, daß das Leben sowohl kurz als auch endlich war. Man sollte es also nicht unnötig verschlafen.
Eine Schwester aus einer anderen Station huschte auf dem Korridor vorüber. Lena Söderström trank Tee. Die beiden Nachtschwestern saßen über ein Kreuzworträtsel gebeugt. Es war neunzehn Minuten nach zwölf. Schon Oktober, dachte Ylva. Der Herbst steht auf der Kippe. Bald kommt der Winter. Im Dezember hat Harry Urlaub. Einen Monat. Da bauen wir die Küche um. Nicht weil es nötig ist. Aber damit er etwas zu tun hat. Urlaub ist nichts für Harry. Da ist er rastlos. Es klingelte aus einem
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