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Walled Orchard 02: Der Garten hinter der Mauer

Walled Orchard 02: Der Garten hinter der Mauer

Titel: Walled Orchard 02: Der Garten hinter der Mauer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Holt
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meine Bürgerpflicht begreife.
     
    Diesem ungewöhnlich langen und ausführlichen Kreuzverhör, das mindestens zehn Mystronen Wasser von Demeas’ Zeit in Anspruch genommen hatte, können Sie nun selbst entnehmen, daß er diese Aussage für seinen schlagendsten Beweis hielt; normalerweise hätte Demeas selbst eine Zusammenfassung gegeben und Aristophanes nur zur eidesstattlichen Versicherung aufgerufen, doch in diesem Fall wollte er die Aussage so lange wie möglich zurückhalten, um den größtmöglichen Nutzen daraus zu ziehen. Mit diesem Vorgehen lag er goldrichtig, denn die Geschworenen saugten die Worte gierig auf. Mein Lebtag habe ich keine derartige Aufmerksamkeit für ein Kreuzverhör erlebt. Dramaturgisch betrachtet, war es geschickt durchgeführt. Ich spreche als Fachmann: Wenn es einem gelingt, etwas in einer neuen und schockierenden Art darzubieten, ruft es eine viel größere Wirkung hervor; und wenn es einem gelingt, den Geschworenen in einem Prozeß etwas in den Kopf zu setzen, dann werden sie einem höchstwahrscheinlich auch glauben, selbst wenn man zur Erhärtung seiner eigentlichen Argumente nichts aufzuweisen hat.
    Mit seinen restlichen Zeugen verfuhr Demeas in der üblichen Weise, indem er ihnen den Eid auf ihre Aussagen abnahm. Dann ließ er das betreffende Gesetz verlesen und machte sich daran, die Beweisführung der Anklage abzuschließen. Seine Worte werde ich nie vergessen.
    »Männer von Athen, stellt euch einmal folgende Frage«, begann er mit seiner Schlußrede. »Was ist ein Bürger? Was bedeutet es, ein Bürger dieser Stadt zu sein: durch unsere Straßen zu gehen, seine Stimme in der Volksversammlung abzugeben, seine Andacht in unseren Tempeln zu verrichten, seinen Dienst in unserem Heer zu leisten? Welchen Anteil haben wir an diesem gewaltigen Unternehmen, das wir Athen nennen? Es ist die Pflicht eines jeden Mannes, für seine Stadt zu kämpfen und nicht gegen sie. Seht euch doch einmal in unserer Stadt um. Seht euch die Langen Mauern an, die Themistokles zum Schutz der Getreideversorgung in Kriegszeiten errichtet hat, um uns für immer mit dem Meer zu verbinden. Seht euch das Rathaus an, das Solon gebaut hat, um unserer Demokratie ein Heim zu geben. Seht euch die neun Brunnen an, die Peisistratos und seine Erben angelegt haben, um Wasser in die Stadt zu bringen und Trockenheit und Pest zu besiegen. Seht euch die Mauern an, die unsere Vorväter hochgezogen haben, um die Perser am Eindringen zu hindern. Seht euch die Akropolis an, die Perikles erbaut hat, damit sie unsere Krone und unsere Festung sei. Seht euch alle diese Bauwerke an, die für alle Zeiten stehen werden, und denkt an die Männer, die sie hervorgebracht haben. Sie werden unvergessen bleiben; dennoch haben sie nicht mehr als ihre Pflicht getan, die, wie ich bereits gesagt habe, darin besteht, für ihre Stadt zu kämpfen. Und seht euch jetzt die ausgestorbenen Straßen an, in denen es früher ständig von jungen Männern wimmelte, und die verlassenen Häuser, in denen so viele Bürger lebten, die jetzt allesamt tot sind, verscharrt in namenlosen Gräbern auf der Insel Sizilien. Denkt daran, wer diese Entvölkerung verursacht hat, und vergeßt ihn nicht – den Mann, der durch seine furchtbare Gotteslästerung die Vernichtung über unser Heer und unsere Flotte gebracht hat. Das ist ein Mann, der nicht seiner Pflicht nachkam, ein Mann, der das genaue Gegenteil seiner Pflicht tat, indem er gegen seine Stadt kämpfte. Und jetzt, Männer von Athen, macht euch bereit, eure Pflicht zu erfüllen, indem ihr für seine Verurteilung und Hinrichtung stimmt.«
    Das sollte nun das Ende von Demeas’ Rede sein, und es hätte auch einen guten Schluß ergeben und mich vielleicht das Leben gekostet. Aber wie es sich so traf, hatte Demeas sehr schnell gesprochen und war deshalb viel früher, als er erwartet hatte, am Ende seines vorbereiteten Texts angelangt. Kaum war er verstummt, gab die Wasseruhr eins dieser typischen Geräusche von sich, ähnlich einem gurgelnden Rülpsen, als wollte sie den Geschworenen damit sagen, dieser Redner biete ihnen ein zu kurzes Vergnügen, und Demeas begriff sofort, daß er vor einem kleinen Problem stand. Damals betrachtete man es nämlich als Kennzeichen eines guten Sprechers, daß er die ihm gewährte Zeit ganz genau auszufüllen verstand und die letzte Silbe in exakt dem Moment über die Lippen brachte, da der letzte Tropfen Wasser in die Schale fiel; andererseits wurde ein Mann, der zu früh zum Ende

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