Walled Orchard 02: Der Garten hinter der Mauer
an.
Ich weiß nicht, ob Sie schon einmal von einem wirklich schweren Regenschauer überrascht worden sind, bei dem die Wassermassen so heftig herabstürzen, daß einem davon das Gesicht schmerzt, und ob Sie sich dabei schon einmal unter einem Baum oder Felsen verkrochen haben, der Ihnen nur zur Hälfte Schutz geboten hat, wobei der Rest von Ihnen bis auf die Haut durchnäßt worden ist. Genauso war es hinter dieser Mauer, als die syrakusischen Pfeile und Schleuderbolzen stundenlang auf uns niederprasselten. Nicht, daß es sich nach den ersten paar Salven zu einem Regenguß ausgeweitet hätte; es war mehr eine Art Nieselregen, da die Syrakuser aufgehört hatten, ihre Pfeile an den Mauern und Bäumen zu vergeuden, und nur noch auf solche Ziele schossen, die sich ihnen wirklich darboten. Leider hatte sich Demosthenes, sowohl was die Größe des Obstgartens als auch die Höhe der Mauern anging, ein wenig verrechnet. Aufgrund dieses Versehens (ein Fehler, der jedem hätte unterlaufen können) waren wir so eng zusammengepfercht, daß wir uns kaum bewegen konnten, und die Mauern waren genau um das entscheidende Stückchen zu niedrig, um uns volle Deckung bieten zu können. Aus diesem Grund hatten die Syrakuser im Laufe des Tages Ziele in Hülle und Fülle, obwohl sie viel Zeit und Pfeile damit vergeudeten, auf bereits tote Männer zu schießen. Natürlich hielten wir alle unsere Schilde hoch, aber die waren im Handumdrehen derart von Löchern durchsiebt, daß sie praktisch keinen Nutzen mehr hatten. Außerdem waren wir zu müde und erschöpft, um ihr Gewicht zu tragen.
Mir war es gelungen, in der Nähe von Kallikrates und seinen Freunden zu bleiben, und wir drängten uns alle unmittelbar an der Mauer dicht nebeneinander zusammen. Da ich klein bin, konnte ich meinen Körper besser in Deckung bringen als die meisten anderen; Kallikrates war zum Beispiel relativ ungeschützt, da er für mich Platz gemacht hatte. Einmal sah ich einen Pfeil von seinem Helm abprallen und hatte furchtbare Angst um ihn, aber er fluchte nur lautstark, und da wußte ich, daß ihm nichts Ernsthaftes passiert war.
Während sich der Tag dahinschleppte, bekamen wir alle schmerzhafte Muskelkrämpfe, weil es praktisch kaum möglich war, sich von der Stelle zu rühren. Doch selbst wenn unsere Bewegungsfreiheit durch diese Umstände nicht so stark eingeschränkt gewesen wäre, hätte es vermutlich auch sonst niemand gewagt, sich zu rühren. Nachdem wir etwa drei Stunden lang hinter der Mauer gekauert hatten, stieß ich Kallikrates mit dem Ellbogen an.
»Kallikrates, ich möchte dich etwas fragen«, sagte ich.
»Ja, bitte?«
»Weißt du noch, als du mich das erstemal gesehen hast, ich meine, nach der Pest?«
»Ja.«
»Was hast du damals gedacht?«
Er blickte mich verdutzt an und antwortete: »Was für eine merkwürdige Frage. Um ehrlich zu sein, ich habe keine Ahnung. Falls du dich erinnerst, war ich gerade von meiner Pflichtdienstzeit beim Heer in Messenien zurückgekommen. Philodemos hat mich damals losgeschickt, um herauszufinden, was mit deiner Familie geschehen war, und ich mußte feststellen, daß bis auf dich alle tot waren. Ich glaube, ich war ganz schön erschüttert, die Stadt bot während der Pest wirklich einen grauenhaften Anblick.«
»So schlimm wie das hier?«
Ich hörte ihn schwach lachen. »Weiß ich nicht. Das hier ist für mich um einiges scheußlicher, aber hier sind es bloß erwachsene Männer, die sterben oder schon tot sind, damals war es gerade der Tod der Frauen und Kinder, der mir nahegegangen ist. Ich glaube, man wird dazu erzogen, sich damit abzufinden, daß Männer vielleicht frühzeitig sterben, aber Frauen und Kinder sollten vor solch einem Schicksal bewahrt werden. Ich halte die Pest für schlimmer, weil sie so willkürlich und sinnlos war. Für uns ist dies hier zwar ein Niederlage, aber für die Syrakuser ein Sieg. Also nützt das wenigstens irgend jemandem etwas. Aber die Pest…«
»Ich finde das hier schlimmer«, sagte ich. »Vielleicht weil ich jetzt alt genug bin, um das alles zu verstehen, und damals nur ein Kind war.«
Kallikrates seufzte. »Ich hätte nie gedacht, daß ich einmal Schwierigkeiten bei der Entscheidung haben sollte, was der schlimmste Anblick in meinem Leben war. Es ist furchtbar, überhaupt die Wahl zu haben.«
Ich lachte matt und sagte dann: »Ich weiß nicht. Ich meine, das scheint einfach alles so passiert zu sein. Kaum waren wir hier angekommen, um uns Sizilien einzuverleiben und dann
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