Walloth, Wilhelm: Im Schatten des Todes. 1909
hätt allen Grund ein Pessimist zu werden. Als Waise, wie ichs vom ersten Lebensjahr an war, lernt man die Menschen so recht in ihren Schwächen kennen. Meine Schulzeit war scheußlich. Meine Lehrer hielten mich für unbegabt, ja dumm, weil ich, in Folge meines plastischen Anschauungsvermögens, mich in ihrer dürren Begriffswelt nicht zurecht finden konnte und mich sämtliche Lehrfächer aufs erbärmlichste langweilten.«
Karl meinte: »Gewöhnlich werden ja die talentvollsten Schüler aus der Schule hinausgeworfen!«
Otto gab ihm recht und fuhr fort: »Leider war ich noch nicht mal so talentvoll! Es ist ein Jammer, wie wir moderne Menschen erzogen werden. Die ewige Aufregung in der Schule um mitzukommen hat meine Nerven ruiniert. Wie viel Nervenkraft müssen wir nur später verschwenden, um die falschen Vorstellungen, die uns der Religionsunterricht in den Geist geprägt, wieder loszuwerden. Ich war ein Jahr lang tatsächlich gemütskrank; erst Schopenhauer hat meinen Geist gerettet.«
»Mir ging es in diesem Punkt ähnlich,« unterbrach Karl lebhaft. »Schopenhauer war auch mein Erlöser. Ich erinnere mich noch, wie ich zufällig die erste Zeile von ihm las, – das brachte sofort eine kolossale Umwälzung in mir hervor. Jetzt bin ich freilich schon über diesen Philosophen hinaus.«
»Ich ja auch,« fuhr Otto fort. »Aber hör weiter! Mein bischen Vermögen haben Diejenigen dezimiert, die gerade dazu angestellt waren, es dem Waisenkind zu erhalten. Mein erster Vormund hat sich Unterschlagungen zu schulden kommen lassen. Die Pfarrerfamilie, in der ich erzogen wurde, wollte natürlich einen Profit aus mir ziehen. Die Nahrung war daher ungenügend. Es lebten nämlich drei Söhne auf der Universität; die Studenten kosteten was! Dann kam ich in eine andere, eine Künstlerfamilie. Die Leute brauchten auch Geld, da die Bilder des Mannes nicht abgingen. Man überredete mich ganz weltunerfahrenen Menschen, ich möchte doch meinem ›zweiten Vater‹ dreitausend Mark vorstrecken. Ich tats natürlich . . . und hab das Geld nie wiedergesehen. Nun so gings weiter. Mein kleines Kapital ist meine einzige Stütze im Leben.«
»Und die wackelt bedenklich!« meinte Karl.
»Du siehst natürlich wieder zu schwarz,« tadelte ihn der Maler. »Nein, nein, ich bin trotz all meinen trüben Erfahrungen kein solcher Pessimist. S wird noch alles gut. – Nur nicht verzweifeln, Otto!« ermahnte er sich in seiner burlesken Laune; »nur nicht den Glauben an die Menschheit verlieren. Und die schöne, reiche Welt! sieh doch nur mal die Beethovenstraße hinab! Dies fröhliche Menschengewühl, dies Lachen, dies Streben nach Glück! Ist nicht das Streben nach Glück auch schon Glück? Dieser milde Herbstsonnenglanz, der sich sogar herabläßt in jedes Hundehalsband Goldlichter zu drücken und der die Wangen des Bettlers ebenso zärtlich küßt wie den Federhut der reichen Dame.«
»Geh mir doch!« wies ihn der frühreife Schüler zurecht. »Den Sonnenschein können die Leute nicht essen und all ihre Geschäftigkeit gilt ja einzig und allein dem Magen. Was du Fröhlichkeit auf den Gesichtern nennst, halt ich für Maske. Schon aus Geschäftsklugheit zeigt Keiner gern dem Mitbruder seine Trauer auf der Straße, denn den Meisten ist es ein geheimes Fest zu entdecken, daß der liebe Nächste auch sein Teil Kummer hat. Die Meisten wollen lieber beneidet, als bemitleidet werden. Im Mitleid stecken immer fünfzig Prozent Bosheit.«
»Geh, hör auf!« ermahnte ihn der lebenslustige Künstler. »Wo kämen wir hin, wenn wir den Schatten des Daseins nicht auch kleine Lichtpünktchen abgewännen!«
»Was wir brauchen«, versetzte Karl, »das wäre . . . Ja, wie soll ich sagen? Die Menschheit ist bis jetzt weiter nichts als ein krankhafter Hautausschlag der Erde; das müßte anders werden! Eine neue Religion müßte die Menschheit gesund, lebenskräftig machen.«
»Ja,« lachte Otto, »wenn du so was fertig brächtest!«
»Ich werds ganz sicher mal versuchen. Was wir brauchen, wäre . . . die Vereinigung der altgriechischen Sinnenfreudigkeit mit moderner Stimmungsfeinheit. Im Altertum haben die Geistesmenschen geherrscht, – heute herrscht der Philister. Im unserem ganzen Staatsleben gibt die ewig dumme Menge den Ausschlag, nicht wie es sein sollte, die Aristokratie des Geistes und der Kunst. Wie einfältig, der plumpen, rohen Masse die entscheidende Stimme zu geben?«
»Lassen wir das gut sein,« unterbrach ihn Otto, »hier sind wir
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