Wandlungen einer Ehe: Roman (German Edition)
mit einem teuren Pelz um die Schultern, mit glitzernden Ringen an den Fingern, und kein Mann konnte vorübergehen, ohne sie von Kopf bis Fuß mit den Blicken zu berühren, und sie erzählte ruhig, wie unangenehm das Wohnen in der gefrorenen Erde gewesen sei, da Mäuse zu Tausenden über ihre Lager sprangen. Bei solchen Gelegenheiten saß ich stumm da und hörte zu. Und hätte nicht gestaunt, wenn sie mich hin und wieder ins Gesicht geschlagen hätte, grundlos, einfach weil ihr etwas in den Sinn gekommen war. Doch sie erzählte ganz natürlich. Sie wußte von der Armut, von der Welt, vom Zusammenleben mit anderen mehr als alle Werke der Soziologie. Sie klagte nichts und niemanden an, sie erinnerte sich bloß und gab acht. Und wie gesagt, eines Tages war sie bis zum Überdruß satt. Vielleicht war ihr etwas in den Sinn gekommen. Vielleicht hatte sie verstanden, daß man nicht in den Geschäften der Innenstadt nachholen konnte, was ihr und anderen, Hunderttausenden von Menschen, versagt worden war, hatte verstanden, daß der individuelle Aufstieg überflüssig und hoffnungslos ist. Die großen Dinge erledigt das Leben nicht auf der individuellen Ebene. Es gibt keine persönliche Wiedergutmachung für das, was im allgemeinen mit den Menschen geschieht und geschah, heute und vor tausend Jahren. Und alle, die für einen Augenblick aus dem Halbdunkel hervortreten und ins Licht getaucht sind, haben auch in den glücklichen Augenblicken das Gefühl, eine Untreue zu begehen – als ob sie auf ewig den unten Gebliebenen versprochen wären. Wußte sie das alles? Sie sprach nicht davon. Man spricht nicht davon, daß man aus diesem oder jenem Grund arm ist. Sie erinnerte sich an die Armut wie an eine Naturerscheinung. Und klagte die Reichen nie an. Eher die Armen; sie erinnerte sich an alles, was mit der Armut zu tun hatte, auf eine leicht spöttische Art. Als seien die Armen irgendwie schuldig. Als wäre die Armut eine Krankheit, und alle, die an ihr litten, seien selber schuld: als hätten sie nicht genug aufgepaßt, zuviel gegessen, sich nicht warm genug angezogen. In einer Familie spricht man in einem solchen Ton von dem quengeligen Kranken, als ob der Todgeweihte, der wegen seiner Blutarmut nur noch wenige Wochen zu leben hat, etwas dafür könnte, daß es mit ihm so weit gekommen ist – vielleicht hätte er die Medizin schlucken sollen oder zulassen, daß man das Fenster öffnete, oder vielleicht hätte er nicht so viele Mohnnudeln verschlingen sollen, und er hätte die tödliche Krankheit nicht bekommen … Ungefähr so sah Judit die Armut und die Armen. Als ob sie sagen wollte: »Einen Grund muß sie ja haben.« Doch die Reichen klagte sie nicht an. Da wußte sie zuviel.
Sie wußte zuviel, und jetzt, da sich der Tisch des Lebens vor ihr gedeckt hatte, griff sie mit beiden Händen zu und überfraß sich. Aber wie immer waren die Erinnerungen stärker.
Diese Frau war nicht sentimental, doch die Erinnerungen überwältigten auch sie. Es war offensichtlich, daß sie gegen diese Schwäche kämpfte. Seit die Welt besteht, ist es eben so. Es gibt die Gesunden und die Kranken, die Reichen und die Armen. Die Armut läßt sich lindern, die Verteilung des Reichtums kann gerechter geschehen, Egoismus, Gewinnsucht und Habgier können gebremst werden, aber aus Unbegabten kann man keine Genies machen, Unmusikalischen kann man nicht beibringen, daß in der Seele des Menschen göttliche Musik wohnt, und die Habgierigen, die sich mit beiden Pfoten vollstopfenden Hamster, kann man nicht auf Großzügigkeit dressieren. Das wußte Judit so genau, daß sie gar nicht mehr davon sprach. Irgendwo geht die Sonne auf, irgendwo geht sie unter, und irgendwo sind die Armen: So dachte sie. Und sie war aus dem Kreis der Armut ausgebrochen, weil sie eine schöne Frau war und mich die Leidenschaft angerührt hatte. Und weil sie etwas von mir wußte. Deshalb blickte sie um sich, als erwachte sie aus einer Ohnmacht. Sie wurde aufmerksam.
Ich wurde gewahr, daß sie bis dahin nicht gewagt hatte, mich richtig anzuschauen. Einem Ideal, einem übernatürlichen Wesen, das unser Schicksal in der Hand hat, blickt man nicht ins Gesicht. Für sie muß in jenen Jahren eine Art leuchtender Dunstkreis um meine Person geschwebt sein. So daß sie geblendet in meine Richtung zwinkerte. Es war nicht so sehr meine Person, auch nicht meine gesellschaftliche Stellung oder eine männliche, persönliche Eigenschaft, die auf sie wirkte. Für sie war ich die Geheimschrift, die
Weitere Kostenlose Bücher