War da noch was - Roman
mir nach einiger Zeit klar, dass ich schwanger war.« Ich atmete zitternd aus. »Ich war geschockt. Und wenn du die ganze, hässliche Wahrheit wissen willst, Seffy, ich dachte damals, wenn ich bis zum Umfallen schuften, schwere Kisten in die Lastwagen wuchten und über die Berge fahren würde, bis ich vor Erschöpfung nichts mehr sehen konnte, über steinige Wege in ungefederten Lastern und nur wild genug durchgeschüttelt werden würde, dann, ja dann würde ich es vielleicht verlieren.« Ich blickte auf. »Ich war sehr jung. Und schwanger mit dem Kind eines verheirateten Mannes.«
Das konnte Seffy begreifen. Ich sah, wie er nickte.
»Aber du hast dich dort drinnen gehalten. Hast dich durchgesetzt. Du warst nicht bereit, zu gehen.«
»Aber hat man es nicht gesehen? Die anderen müssen es doch gemerkt haben. Was war mit Kit?«
»Ich habe meinen Bauch so lange wie möglich versteckt — weite Oberteile und so –, und die Leute dort kannten mich ja nicht, wussten nicht, wie dick ich war. Aber ja, irgendwann hat man es gesehen. Aber zu dem Zeitpunkt war Kit schon fort. Er ist ja fast sofort nach meiner Ankunft weggegangen. Ich war in Kroatien an der Küste, und er war irgendwo mitten im Land, eingekesselt im belagerten Sarajevo. Wir hatten fünf Monate lang überhaupt keinen Kontakt miteinander. Und bis wir uns wiedergesehen haben, warst du bereits geboren.«
»Wo?«
»In Dubrovnik.«
Er wartete. Das große stille Haus wartete ebenfalls. Tickte weiter. Ich befeuchtete mir die Lippen. »Und der
Ort, den ich mit dir gesucht habe, das kleine Haus im Dorf in den Hügeln, dort habe ich wirklich gewohnt, als ich in dem Warenlager gearbeitet habe. Bei einer Familie namens Mastlova. Die selbst Flüchtlinge waren. Ihre Tochter Ibby und ich waren zusammen schwanger.«
»Sie wussten es von dir?«
»Ja. Mit der Zeit. Und das war unsere Verbindung, die von Ibby und mir. Wir haben viel darüber geredet mit unseren begrenzten Sprachkenntnissen. Ihr Termin war nur ein paar Wochen vor meinem. Und sie freute sich sehr auf das Kind.« Plötzlich tauchte ein sehr lebendiges Bild vor mir auf, wie wir beide da mit unseren dicken Bäuchen in dem staubigen Hof saßen, wo die Kinder spielten und die Hühner im Dreck scharrten, während Ibby an einem winzigen Tuch strickte. Sie versuchte, mich ebenso glücklich über mein ungeborenes Kind zu machen, wie sie es war. Ich erinnere mich daran, wie sie mir lachend ihr Strickzeug gab und sagte, ich sollte weiterstricken, während sie aufstand und ins Haus ging, um das Essen vorzubereiten. Aber meine Augen hatten sich mit Tränen gefüllt, eine Hand auf meinem dicken Bauch, weinte ich dicke Tränen, während mir ein Ball mit heller Wolle vom Schoß sprang und auf dem Boden davonrollte.«
Ich räusperte mich. »Als Ibby Wehen bekam, sind sie alle zusammen ins Krankenhaus gefahren — die ganze Familie – und das Auto wurde von einer Granate getroffen. Als ich dort hinkam, hatte sie ihr Kind geboren, war aber selbst an ihren Wunden gestorben. Vielleicht war es der Schock, jedenfalls bekam ich vorzeitige Wehen. Ihr Baby hat nur ein paar Stunden überlebt, aber meines — du — wurde kurze Zeit später geboren.«
Ich sah noch einmal vor meinem inneren Auge, wie sich der gestresste junge Arzt, der Seffy auf die Welt gebracht
hatte, über mich beugte. Dann sah ich noch etwas, was ich jahrelang verdrängt hatte. Ich hörte es auch. Stimmen, die im Flur riefen und durcheinanderschrien, ein Kindergarten sei bombardiert worden. Dann flog die Tür des Zimmers auf, und ein Mann mit angstverzerrtem Gesicht kam herein, sein kleines Mädchen im Arm: Ein Bein war nur noch ein blutiger Stumpf, ihr halber Kopf war weggeschossen. Der Mann schrie und drängte den schlaffen, verstümmelten Körper in die Arme des Geburtshelfers dort auf der Entbindungsstation, ein verzweifelter Mann, der verzweifelt Hilfe suchte. Man sagt, dass die Psyche solche Erinnerungen zu unserem Schutz ausblendet. Schützt uns das auch vor den Konsequenzen dieser derart schrecklichen Zufälle? Die uns zu der Vorstellung verleiten, dass nur etwas ganz furchtbar Falsches der einzig gangbare Weg sein kann? Oder müssen wir Jahre später das Warum und Wozu selbst herausfinden? Ich holte tief Luft, um mich zu beruhigen.
»Ich bin geflohen. Ich habe dich dortgelassen auf dem Krankenhausbett, Seffy.« Seffys Augen weiteten sich vor Entsetzen. »Ich bin geflohen vor Angst und Schrecken über all das, was dort geschehen war.«
Es folgte
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