Warcraft - 2
Mindestens einmal die Woche unterhielten sie sich heimlich auf diese Weise, und Thrall stellte sich die Welt vor, so wie Taretha ihm davon erzählte. Es war eine Welt der Kunst, der Schönheit und der Freundschaft. Eine Welt, in der Essen nicht aus verdorbenem Fleisch und Brackwasser bestand. Eine Welt, in der auch er einen Platz hatte.
Ab und zu fiel sein Blick auf das immer stärker zerschlissene Wickeltuch mit dem Symbol des weißen Wolfskopfs auf blauem Grund. Dann sah er schnell weg, weil er meinte, dass seine Gedanken diesen Pfad nicht betreten sollten. Was hätte es gebracht? Er hatte genug Bücher gelesen (einige, die Tari ihm heimlich geschickt hatte und von denen Blackmoore nichts ahnte), um zu wissen, dass die Orks in kleinen Gruppen lebten, von denen jede über ein eigenes Symbol verfügte. Was also hätte er denn tun sollen? Blackmoore sagen, er wolle jetzt kein Sklave mehr sein – dürfe er also bitte gehen, um seine Angehörigen zu suchen …?
Trotzdem er absurd war, ließ ihn der Gedanke nicht mehr los. Sein eigenes Volk …
Tari hatte ihr eigenes Volk, ihre Familie, die aus Tammis und Clannia Foxton bestand. Man schätzte und liebte sie. Er war froh, dass sie so liebevoll aufwuchs, denn nur dank dieser Sicherheit hatte sie selbst die Herzenswärme entwickeln können, mit der sie ihm begegnete.
Manchmal fragte er sich, was die anderen Foxtons von ihm hielten. Tari erwähnte sie kaum noch. Sie hatte ihm erzählt, dass ihre Mutter Clannia ihn an ihrer Brust gesäugt hatte, um sein Leben zu retten. Zuerst hatte dies Thrall berührt, doch als er älter wurde und mehr lernte, verstand er, dass Clannia es nicht aus Liebe zu ihm getan hatte, sondern nur um ihre Position bei Blackmoore zu verbessern.
Blackmoore. Alle Pfade seiner Gedanken endeten bei ihm. Wenn er Tari schrieb oder ihre Briefe las, oder wenn er in den Zuschauer-rängen während der Gladiatorenkämpfe nach ihrem goldenen Haar suchte, konnte er vergessen, dass er jemandem gehörte. Er konnte sich auch in den aufregenden Momenten verlieren, die Sergeant
»Blutgier« nannte, aber diese Augenblicke waren nur kurz. Selbst wenn Blackmoore Thrall besuchte, um über eine militärische Strategie zu sprechen, die Thrall studiert hatte, oder um eine Runde Falken und Hasen zu spielen, gab es keine Zuneigung, kein Gefühl von Familie, das ihn mit diesem Mann verband. Wenn Blackmoore in jo-vialer Stimmung war, sprach er mit ihm wie mit einem Kind. Und wenn er verärgert war und voll dunkler Wut, was häufiger vorkam, fühlte sich Thrall hilflos wie ein Neugeborenes. Blackmoore konnte befehlen, dass man ihn schlug oder aushungerte oder verbrannte oder ankettete, oder – das wäre die schlimmste aller Strafen gewesen, die Blackmoore aber zum Glück noch nicht eingefallen war – er konnte ihm seine Bücher verbieten.
Thrall wusste, dass Tari kein privilegiertes Leben führte, nicht ver-glichen mit dem Blackmoores. Sie war eine Dienerin und damit beinahe eine Sklavin, auch wenn man nur den Ork Sklave nannte. Aber sie hatte Freunde, sie wurde nicht angespuckt, sie hatte einen Platz gefunden.
Langsam, ohne dass er es selbst wollte, bewegte sich seine Hand und griff nach dem blauen Wickeltuch. In diesem Moment hörte er, wie die Tür aufgeschlossen und geöffnet wurde. Er ließ das Tuch fallen, als sei es etwas Schmutziges.
»Komm schon«, sagte einer der schlecht gelaunten Wächter und reichte ihm die Ketten. »Zeit zu kämpfen. Ich habe gehört, sie haben heute einen ziemlich guten Gegner für dich.« Er grinste humorlos und entblößte seine fleckigen Zähne. »Und Lord Blackmoore wird dir das Fell über die Ohren ziehen, wenn du nicht gewinnst.«
FÜNF
Mehr als zehn Jahre waren vergangen, seit Leutnant Blackmoore auf einen Schlag einen elternlosen Ork und die Möglichkeit zur Erfüllung all seiner Träume gefunden hatte.
Für Thralls Herrn und die Menschheit im allgemeinen waren es gute und fruchtbare Jahre gewesen. Aedelas Blackmoore, einst Leutnant, nun Generalleutnant , hatte mit Spott leben müssen, als er seinen
»Haus-Ork« zum ersten Mal nach Durnholde brachte. Das lag vor allem daran, dass niemand glaubte, das unglückliche kleine Ding könne überleben. Zum Glück hatte es Mistress Foxton und ihre prallen Brüste gegeben. Blackmoore konnte nicht verstehen, wie eine menschliche Frau es über sich brachte, einen Ork zu säugen. Dieses Angebot hatte seine Verachtung für seinen Diener und dessen Familie noch verstärkt, gleichzeitig
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